Die Fähigkeit sich zu freuen

Kann man für Freude sensibel oder „wach“ werden?

Die Fähigkeit Freude zu empfinden kann ebenso gelernt werden wie die Fähigkeit gesund zu bleiben. Uns freuen zu lernen an den kleinen Dingen des Alltags ist dabei die beste Schule, weil uns dieser Alltag ständig umgibt. Ein Beispiel:

Während meiner Klinikausbildung hatte ich eine Phase, in der ich mich überfordert und gestresst fühlte. Ich fragte mich immer wieder, wie lange ich das noch aushalte und merkte, wie mir langsam, aber sicher, die Lebensfreude abhanden kam.

Eines Morgens fuhr ich in die Klinik, es war noch dunkel und ich hing meinen trüben Gedanken nach und war traurig darüber, dass ich aus diesem Stimmungstief nicht heraus kam. Auf einmal sah ich ein Kindergartenkind am Straßenrand mit einem kleinen Täschchen um den Hals auf dem Weg zum Kindergarten gehen, fröhlich, leichtfüßig, strahlend, mit den Füßen welkes Laub herumwirbelnd. In dem Augenblick merkte ich, dass dieses alltägliche Bild eines Kindes, das morgens in den Kindergarten geht, für mich eine besondere Botschaft hatte: Das Leben ist schön, die Last ist leicht – es kommt nur darauf an, dass du das in freudelosen Zeiten nicht vergisst.

Wir haben uns heutzutage so sehr daran gewöhnt, uns über Erfolg und Anerkennung von außen zu definieren, dass wir darüber vergessen, dass das Leben nicht nur „immer weiter geht“, sondern dass zu leben bedeutet, dass wir Daseinsfreude in uns tragen, die jederzeit „geweckt“ werden kann, wenn wir dies nur zulassen.

So ist mir dieses Bild zum Inbegriff von Lebensfreude geworden. Ich sehe es heute noch vor mir. Es schützt mich vor manchem Alltagsärger, weil ich mir das, was dieses Kind ausstrahlte, in Erinnerung rufen kann: Du bist mehr als dieser Ärger, du hast auch deine Kindheit in dir, deine Zukunft – nicht nur die Vergangenheit und die Gegenwart.

Das Leben selbst ist uns immer freundlich gesonnen und sorgt dafür, dass es weiter geht. Wenn ich das Leben in den Kleinigkeiten und kleinen Einzelheiten wieder wahrzunehmen beginne (vgl. Gefühle und Fühlen: Anregung der Gefühle durch Sinnesschulung), wenn ich achtsamer werde gegenüber dem Alltag selbst, wenn ich die Ereignisse zu mir sprechen lasse und sie nicht nur registriere – dann fühle ich auch wieder Lebensfreude. Ich kann sie in schwierige Situationen hineintragen und mich angemessener und vielleicht auch mutiger verhalten. Unser Wesenskern, der Kern unserer Persönlichkeit (vgl. Gefühle und Fühlen: Gefühl und Wahrnehmung), gewinnt an Kraft durch die Freude – und darauf kommt es an.

Vgl. Vortrag „Gesundheit und Lebensfreude im Alltag“, Basel, 25.11.2007