Gedankenformen und Aggregatszustände

Unser Denken zeigt bis in Einzelheiten einen engen Zusammenhang mit den Lebensvorgängen in unserem Leib. Die Stoffe werden im Zuge des Stoffwechsels zu festen, flüssigen und gasförmigen Strukturen verarbeitet und sind mit Hilfe der Wärme unter konstanter Erhaltung einer bestimmten Temperatur in dem für sie und ihre Funktion im Organismus richtigen Aggregatszustand wirksam. Das Gleiche geschieht geistig in unserem Denken:

1. „Feste Gedanken“ – Vorstellungen und Dogmen

Auch hier gibt es klare, festumrissene Vorstellungen, die fest wie Knochen sind, an denen nicht zu rütteln ist. Es gibt sogar Gedanken, die wie Ablagerungen, wie Steinbildungen sind: Dabei handelt es sich um Gedankeninhalte, die nicht mehr Anteil haben an den Denkprozessen, weil sie nicht infrage gestellt werden, obgleich sie nie voll verstanden wurden. Sie werden Dogmen genannt. Werden solche Inhalte so lange bewegt, bis der Betreffende sie versteht, so bedeutet das für den Gedankenorganismus das Gleiche wie für den Körper, wenn eine Ablagerung bzw. eine Steinbildung sich wieder löst.

2. „Flüssige Gedanken“ –Begriffe

Gedankenbildungen, die dem Element des Flüssigen entsprechen, lassen sich nie in eine feste Vorstellung bringen. Sie lassen sich nur beschreiben, definieren, charakterisieren: Es handelt sich hierbei um die Begriffe. Nehmen wir den Begriff „Altar". In wie vielen Kirchen haben wir schon Altäre gesehen! Vielleicht waren wir schon in den Katakomben in Rom und haben die einfachen, schlichten unterirdischen Altäre gesehen und dann die prunkvollen Ausgestaltungen im Petersdom und sehen jetzt hier den neuen Altar der Johanneskirche, der erst wenige Monate alt ist. In jeder Kirche sehen wir einen etwas anders gestalteten Altar – aber immer ist es ein Altar, der eine Altar. Es ist aber jedes Mal ein ganz besonderer, vorstellbarer Altar – der Begriff Altar selbst ist hingegen unsichtbar. Er ist das geistige Konzept „Altar“, aus dem alle nur denkbaren möglichen Altäre hervorgehen können. Er umfasst, was es in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an Altären gab und geben wird. Über Begriffe nachdenken, Begriffe im Denken zu bewegen führt zum Erlebnis des Flüssigen im Denken. Hier ist alles im Fluss, ist unendliches schöpferisches Werden.

3. „Luftförmige Gedanken“ – Einfälle

Die Gedankenformen, die den Gesetzmäßigkeiten der Luft entsprechen, sind die Einfälle. Eben war uns ein fantastischer Gedanke gekommen – im nächsten Augenblick ist er wieder entschwunden. Gute Einfälle lassen sich nicht erzwingen und nicht festhalten. Sie kommen und gehen nach ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit. Es gibt Menschen, denen fallen die besten Dinge gleich morgens beim Aufwachen oder während der Morgentoilette ein, wohingegen andere solche schöpferischen Momente am ehesten auf einem Spaziergang erleben oder mitten im Gespräch mit einem anderen Menschen, oder aber während einer Konzert- bzw. Theateraufführung – oder auch während eines Gottesdienstes. Auf gute Einfälle trifft zu, dass der „Geist weht, wo er will".

4. „Durchwärmte Gedanken“ – Ideale

Die Gedanken, die dem Wesen der Wärme entsprechen, sind unsere Ideale. Je klarer und verbindlicher wir für uns ein Lebensideal gefunden haben, umso stärker durchwärmt und durchstrahlt es alles, was wir denken. Wer z.B. den drei christlichen Idealen folgt – Wahrheit für das Denken, Liebe für das Fühlen, Freiheit für das Wollen –, wird angesichts einer Lebensfrage oder eines zu lösenden Problems andere Gedanken und auf ganz andere Art bewegen als jemand, dem diese Ideale wenig bedeuten. So wie die Wärme darüber entscheidet, ob ein Stoff in gasförmiger, flüssiger oder fester Form vorliegt und damit eine beherrschende Rolle im Naturzusammenhang spielt, so prägen die Ideale den gesamten Gedankenorganismus und geben ihm Orientierung.

Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997**