Gefühl und Wahrnehmung

Wie hängen Wahrnehmung und Gefühl zusammen?

Alles, was von außen an den Menschen herankommt, trifft zuerst auf seine Sinne. An dieses Sinneserlebnis schließt das Denken sekundär an durch das Bilden von Vorstellungen, die ermöglichen, dass das Wahrgenommene erinnert wird. Der Übergang von der Sinnesempfindung zum Gefühl kann nur bei sehr genauer Selbstbeobachtung festgestellt werden: Der Sinneseindruck von außen rührt als Sinnesempfindung an das Gefühl und lebt dort weiter, während das Sinneserlebnis, das die Empfindung ausgelöst hat, bereits ein Ende gefunden hat. So kann z.B. die Erinnerung an eine liebevolle Umarmung zum Abschied über Jahre hin das Gefühl des Geliebt-Werdens und der Geborgenheit immer wieder neu hervorrufen. Es hängt ganz von dem betreffenden Menschen ab, wie ein solches Ereignis in seinem Gefühlsleben fortwirkt – ob es dem Bewusstsein wieder entschwindet oder eine bleibende seelische Kraft wird, die jederzeit wieder in das innere Erleben zurückgerufen werden kann. Sinneswahrnehmung und Denken (Erinnern) sind die Grenzen, an denen das Gefühlsleben erwacht und sich seiner selbst bewusstwird.

Gefühle als Wahrnehmungsorgane

Gefühle – sind sie einmal geweckt – können zu Wahrnehmungsorganen der Seele werden (vgl. Liebe: Liebe als Entwicklungsmotiv). Denn ein Gefühl, das man aufgrund einer bestimmten Erfahrung entwickelt hat, macht einen sensibel für Gefühlszustände derselben Art bei einem anderen Menschen. Was ich erlebt habe, macht mich verständnisvoll für entsprechende Erfahrungen und Erlebnisse anderer Menschen. Aus dem eben Ausgeführten geht hervor, dass der Mensch die Wahrnehmung seiner selbst der Sinnestätigkeit bzw. der Art und Weise, wie er gelernt hat, seine Sinne zu gebrauchen, verdankt.

So sind Wahrnehmungsschwächen und Mangel an Mitgefühl immer auch Zeichen, dass bestimmte Erlebnisse und Erfahrungen noch nicht gemacht werden konnten. Wer unter diesem Gesichtspunkt das Leben der Kinder heute anschaut, wie vieles sie nicht mehr ungestört erleben können, oder wie sehr das Sinneserlebnis bzw. die Zusammenarbeit der Sinne gestört werden, z.B. durch Fernsehen (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des physischen Leibes), den wundert es nicht, dass immer mehr Beeinträchtigungen in der Selbst- und Umweltwahrnehmung auftreten.

Auch wird dadurch verständlich, wie schwer es für den Menschen heute ist, die eigene Existenz als sinnerfüllt zu erleben. Seiner Natur nach ist der Mensch ein ewiges Wesen, integrationsfähig, frei, in sich ruhend, sympathie- und antipathie-begabt, er kann schmecken, ist voller Wärme und Licht, verfügt über Innigkeit und eine eigene Individualität, er ist fähig, sich als sinnvoll eingebettet in den Weltzusammenhang erleben. Durch die vielfältigen Sinneserfahrungen, die wir mithilfe unseres Leibes machen können, werden wir uns auch unserer geistig-seelischen Natur bewusst, d.h. an der Sinneswelt lernen wir, die Sinnhaftigkeit unseres eigenen Daseins zu erkennen und unser Leben konstruktiv und entwicklungsorientiert zu handhaben.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 2. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997