Gemeinschaftsfähigkeit stärken

Wie kann man lernen, die Instrumente moderner Gemeinschaftsbildung so zu benützen, dass eine heilsame, heilende Ausstrahlung entsteht?

Zentrale Hilfestellung hierfür sind Übungen wie die Rosenkreuzmeditation, 1 die sechs Nebenübungen (vgl. Herz(chakra): Nebenübungen für die Charakterschulung)2 sowie die Arbeit an den Monatstugenden (vgl. Lebensrhythmen: Der Monatsrhythmus).3 Es gibt aber auch Übungen, die direkt den Willen, die Intentionssphäre, die soziale Ur-Haltung ansprechen, wie das Wort des Christus in Gethsemane, „Vater, nicht mein, sondern Dein Wille geschehe.“4

Dazu gehört auch das dem schwäbischen Pfarrer Öttinger zugeschriebene Rosenkreuzergebet:

„Gott gebe mir die Gelassenheit,
Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann;
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann;
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ 5

Ertragen-Können macht friedensfähig

Wenn wir tragen können, was wir nicht ändern können, sind wir friedensfähig. Wir sparen viel Zeit und Kraft am falschen Platz, wenn wir aufhören zu kritisieren und zu wiederholen, was alles so schrecklich ist. Wir reden nur dort, wo wir die Möglichkeit einer Veränderung sehen: nicht hinten herum, sondern von Angesicht zu Angesicht. Das kann auch mal unangenehm sein für den Bereich, in dem wir etwas verändern wollen.

Dann jedoch ist die Chance auf Begegnung und Entwicklung stets aus Neue gegeben. Rudolf Steiner sagt, dass wir auch nach Hunderten von Misserfolgen an „das moralische Wunder“ glauben können und sollen, dass z.B. unser karmischer Gegner plötzlich auf uns zukommt und sagt: Ich habe mich entschieden, Frieden zu schließen. Ich habe immer opponiert, aber jetzt sehe ich ein, dass Sie im Grunde doch Recht haben oder dass wir selbst uns zu einem solchen Schritt entschließen können. – So etwas gibt es. Der Hintergrund kann vielleicht auch einmal der sein, dass der Betreffende frisch verliebt ist und plötzlich alles lockerer sieht. Jedem von uns kann passieren, dass er oder sie, durch was auch immer veranlasst, die Prioritäten plötzlich anders setzt und den Weg frei macht für etwas anderes, etwas Neues.

Abspüren, ob Änderungen angebracht sind

Unser Unternehmertum, unseren Mut, unsere Freiheit und unser Willensengagement können wir überall da einbringen, wo wir den Eindruck haben, es sollte sich etwas ändern. Daraus entsteht Liebe zur Arbeit, Liebe zur Sache (vgl. Zusammenarbeit: Orientierung am gemeinsamen Ziel). Man muss aber auch spüren, wann man aufhören muss mit dem Ändern-Wollen, weil die Zeit noch nicht reif ist dafür. Man darf gewisse Dinge nicht durchdrücken, wenn man eine Art Grenze, einen Widerstand, erlebt und daran erkennt, dass das Schicksal das (noch) nicht will. In dem Fall muss man umschalten auf Ertragen und Frieden-Schließen. Wir werden auf diesem Weg einerseits Experten einer „Kultur des Scheiterns“ und lernen andererseits den Optimismus echter Geistesgegenwart – der immer Hoffnung zulässt und jederzeit bereit ist zur Neugestaltung und Entwicklung.

Beurteilen, wann was dran ist

Auf diese Weise erwerben wir uns auch die dritte Fähigkeit: Zwischen dem Mut zur Tat und der friedfertigen Tragekraft entwickeln wir aus uns selbst heraus die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Diese tief menschliche Weisheit, diese besondere Anthropo“sophie“, ist das zentrale merkurielle sozialtherapeutische Agens. Das weisheitsvolle Abspüren, wann man schweigend und geduldig tragen und wann man vorpreschen muss, damit eine Angelegenheit endlich realisiert werden kann. Auf dieses geistesgegenwärtige Innehalten kommt es an. Es macht uns zu guten Instrumenten, macht, dass wir merkuriell und flexibel zur Disposition stehen.

Rudolf Steiner sagte vom Bewusstseinsseelen-Menschen sinngemäß: „Der auf sich selbst gestellte Mensch kann zur Verfügung stehen.“ Ein selbstständiger Mensch ist disponibel. Er tut das, was gebraucht wird. Er will nur das, was gebraucht wird, denn er steht sicher auf seinen eigenen Füßen und braucht nichts mehr für sich. Er hat vielmehr Lust, das zu tun, was einer Situation und dem Umkreis, in den er gerade gestellt ist, zum Heil und zur Hilfe dient, was dort passend und möglich ist. Daran hat er große Freude.

Aus dem Geburtsschmerz der Tragekraft und aus der von Liebe und Freiheit motivierten Muteskraft gebiert sich die Weisheit, gebiert sich die Freude am Leben und an der Gestaltung (vgl. Freude: Freude am Tun und Freiwilligkeit). Aus diesem Zusammenwirken von Freude und Schmerz entsteht Lebensweisheit, die das soziale Leben tragen kann, sodass Lasten, die wir tragen, zu Geschenken des Schicksals werden, an denen Geduld gelernt und Weisheit für die Zukunft entwickelt werden kann – ebenso wie sich an ihnen auch die Freude entzündet, die Kraft gibt für Leben und Arbeit.

Vgl. Publikation im ‚Der Merkurstab’ des Vortrags auf der Jahreskonferenz der anthroposohisch-medizinischen Bewegung am 16.9.2011 im Goetheanum

  1. Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13, S. 229 ff. Rudolf Steiner Verlag.
  2. Ebenda, S. 329 ff.
  3. Rudolf Steiner, Seelenübungen, GA 267. Rudolf Steiner Verlag.
  4. Neues Testament, Lukas 22,42.
  5. Dem schwäbischen Pfarrer und Rosenkreuzer Friedrich Christoph Oettinger zugeschrieben – tatsächlich auf den evangelischen Theologen Reinhold Niebuhr und das Jahr 1943 zurückgehend.