Die Gottebenbildlichkeit des Ätherleibes

Welchen Aspekt des Göttlichen bildet der Ätherleib ab?

Was sagt uns das?

Welche Aufgabe ist damit verbunden?

Auf der ätherischen Ebene sieht es in Bezug auf die Gottebenbildlichkeit ganz anders aus. Dort geschieht etwas, das uns Rudolf Steiner im 1. Kapitel von „Grundlegendes…“1 so intensiv ans Herz legt, dass er dabei sogar in den Superlativ verfällt. In Rudolf Steiners schriftlichem Werk findet man höchst selten Superlative, aber in Bezug auf eine Besonderheit des Ätherischen verwendet er folgende Formulierung:

Bedeutsame Doppelnatur des Ätherischen

„Es ist von der allergrößten Bedeutung zu wissen, dass die gewöhnlichen Denkkräfte des Menschen die umgewandelten, verfeinerten Wachstums- und Regenerationskräfte sind.“2

Mit anderen Worten: Es ist von der allergrößten Bedeutung, dass wir die Doppelnatur des Ätherischen verstehen (vgl. Doppelnatur des Ätherischen: Körpergebundenes Leben und leibfreies Denken)! Der Begriff Doppelnatur besagt, dass dieselben Kräfte, die den Leib bilden, die ihn von oben nach unten sukzessive reifen lassen, also die Wachstumskräfte, „umgewandelt und verfeinert“ werden zu den Denkkräften des Menschen:

  • In den ersten sieben Jahren betrifft das die ätherischen Kräfte, die die Organe des Hauptes bilden,

  • im zweiten Jahrsiebt diejenigen, die die Organe der rhythmischen Organisation bilden

  • und im dritten Jahrsiebt diejenigen, die die feinere Ausreifung des Muskel- und Skelettsystems bis zum Ausgewachsen-Sein bewerkstelligen.

Wenn wir diese Wachstumsprozesse verfolgen, können wir gleichzeitig auch verfolgen, dass das Denkvermögen in dem Maße zunimmt, in dem der Körper ausreift (vgl. Entwicklung: Entwicklungsphasen und Pädagogik): In der Zeit also, in der die Sinnesorgane reifen, können wir beim Kind einen ständigen Zuwachs an Beobachtungsvermögen feststellen. Es zeigt auf Dinge und fragt: Warum, warum, warum? Man merkt, die aus den Sinnesorganen für das Denken freigewordenen ätherischen Kräfte, sind an die Sinneserscheinungen geknüpft – d.h. das Kind will sich erfüllen mit den Vorstellungen dieser Erde; es sucht den Kontakt zum Physischen. Das ist ein wunderbarer Zusammenhang.

Im 2. Jahrsiebt entspringt das Denken ganz anderen Wachstumskräften, die nicht diesen Bezug zum Physischen haben: den Wachstumskräften von Atmung und Herz. Die Atmung ist ja eine Funktionalität von größtmöglicher Selbstlosigkeit. Sie dient physiologisch gesehen dem Gasaustausch durch einen Rhythmus, der das menschliche Wesen anschließt an den Makrokosmos und der uns dadurch gleichzeitig sagt, dass wir an den Makrokosmos angeschlossen sind – im Schnitt 18mal in jeder Minute, die wir atmen. Wenn wir das auf die Stunde und den Tag umlegen, kommen wir auf die berühmte platonische Zahl 25.920 (vgl. Lebensrhythmen: Das platonische Weltenjahr).

Platonisches Weltenjahr und Ich-Entwicklung

In seinem letzten medizinischen Zyklus, dem Pastoralmedizinischen Zyklus3, widmet Rudolf Steiner nur dieser Zahl einen ganzen Vortrag – so wichtig war sie ihm. Er sagt dort, dass diese Zahl einen Weltenrhythmus anzeigt: Die ganze Evolution ist nur ein Keim, der sich in diesem Rhythmus von 25.920 Jahren wie realisiert. Diese 25.920 Jahre lassen sich in 12 Weltenmonate teilen – das sind 2.160 Jahre, die laut Rudolf Steiner der durchschnittlichen Dauer einer Kulturepoche entsprechen. Die sieben nachatlantischen Kulturepochen und die fünf atlantischen Epochen davor ergeben nun einen Kreis von zwölf Kulturepochen (Weltenmonaten): Dieses Weltenjahr entspricht der Evolutionsphase, in der die Menschheit zu sich kommt und ihr eigenes schöpferisches Wesen entdeckt und handhaben lernt.

Zentralereignis dieser Weltenrhythmus-Entwicklung ist das Mysterium von Golgatha: die Erfüllung des dem Menschen von den Geistern der Form verliehenen Leibes, mit dem wahren wesenhaften Christus-Ich (vgl. Christus heute: Jesus-Christus und der Tempel des Leibes). Dieser kostbare Moment in der Mitte des Weltenjahres4 stellt den Höhepunkt einer Entwicklung dar, auf den die ganze Evolution, mit Saturn, Sonne und Mond hinstrebte.

Das Weltenjahr entspricht makrokosmisch gesehen dem Zeitraum, in dem der Frühlingspunkt rückläufig einmal durch den ganzen Tierkreis wandert. Das heißt wir atmen in 24 Stunden im Rhythmus der makrokosmischen Entwicklung ein und aus und sind damit Teil dieser Evolution und eines großen Ganzen.

Ätherischer „Tod auf Golgatha“…

Das Mysterium des Ätherischen besteht nun darin, dass die evolutive Schöpferkraft, die ätherische Kraft der Evolution, den Menschenleib verlässt und außerkörperlich unsere Gedankenaura bildet, die sich am Gehirn reflektiert. Diese Gedankenaura ist der Ursprung des „ewigen Lebens“, weil sich dort der Gedanke des Ich verwurzelt, welchen wir nur auf der Erde fassen können. Und nur auf Erden können wir von diesem Punkt aus anfangen, an unserer ewigen Individualität zu arbeiten und dieses Ich-Erlebnis wie eine Schale werden zu lassen, sodass das Göttliche – „Nicht ich, sondern der Christus in mir…“5 – sich als schönes Ziel anbahnen kann, das sich verwirklichen, das werden möge.

Die Schöpferkraft Gottes, die unseren Leib gebildet hat, die uns über die Sinne der Umwelt gegenüber aufgeschlossen gemacht hat, die alle Bereiche umfasst, die die menschliche Natur mit der Substanzwelt und der Tiernatur teilt, diese Schöpferkraft kommt in der menschlichen Natur tatsächlich an ein Ende und erleidet den Tod im Menschen – wovon der Tod auf Golgatha ein Bild ist – in der Hoffnung, dass die Menschen dadurch in der Lage sind, selbst die ihnen innewohnende Freiheit und Liebe des Göttlichen zu erkennen und sie wirksam werden zu lassen (vgl. Ethische Fragen: Hans Jonas ethisches Prinzip der Verantwortung).

…und Auferstehung im Denken

Diese in der gesamten Schöpfung lebende und schaffende Schöpferkraft, aufersteht einzig und allein bei uns Menschen in verwandelter Form als Weisheit, als „ewiges Leben“, als unser gedankliches Vermögen, unser Denken. Im Denken können wir die Ziele unserer Entwicklung, unserer Zukunft, erfassen. Wir können uns denkend daran orientieren und uns ihnen begeistert hingeben (vgl. Menschheitsentwicklung: Der göttliche Weltenplan). Die religiösen Vorstellungen aller Religionen sind erfüllt von Bildern der Vollkommenheit, von Zukunftsperspektiven, Wandlungsmotiven und moralischen Werten. Auch das Motiv vom Opfer, das gebracht werden muss, wenn die Verwandlung in eine geistergebene, höhere menschliche Natur gelingen soll, ist immer von zentraler Bedeutung.

Wenn ich über diese Zusammenhänge nachdenke, erlebe ich immer wieder aufs Neue eine Art „Verantwortungsschock“, ob der Tatsache, dass ich allein für die Art und Weise verantwortlich bin, wie ich mit diesem Denkvermögen umgehe, was ich daraus mache. Ich trage sozusagen Gottes Ohnmacht in Händen: In mir ist er erstorben, damit ich jetzt selber sage, wie es weitergehen soll mit mir und meiner Mitwelt: Ich bin mitbeteiligt, bin Mitschöpfer an der Evolution. Das ist ein Gedanke, der nicht einfach zu ertragen ist. Ich bin sicher, dass viele Menschen sich davor verschließen, weil er so anspruchsvoll und eigentlich kaum zu ertragen ist.

Erwachen im Ätherischen als zweite Geburt

Die ganze Schöpfung ist also daraufhin ausgerichtet, in uns Menschen zu Ende zu kommen, quasi den „Tod auf Golgatha“ zu vollziehen im Sinne der Rosenkreuzerworte: „In christo morimur“. Das sollten wir wissen und deshalb den Auferstandenen im Denken suchen, oder anders ausgedrückt: das Erwachen im Ätherischen suchen in einer völlig neuen Art, wozu uns die Anthroposophie erst so richtig befähigt – zu wissen, was wir glauben und zu glauben, was wir wissen. Damit erreichen wir eine Dimension, von der Rudolf Steiner in den Evangelienzyklen6 sagt: Der Christus möchte im Bewusstseinseelenzeitalter verstanden werden. Es genügt ihm nicht mehr, dass wir nur an ihn glauben (vgl. Anthroposophie: Anthroposophie als Weg zur Wahrheit).

Wir müssen uns klarmachen: Die Freude, die wir Menschen an der Entwicklung der Kinder haben, entspricht der Freude der Götter darüber, dass es schon Menschen gibt, die in ihre Welt heraufragen und als geistige Verheißung die Gedankensprache erlernt haben, die wirklich spirituell zu kommunizieren vermögen. Dazu müssen wir uns nur vorstellen, wie ein Rudolf Steiner, ein Goethe sich in großer Scheu in der geistigen Welt begegnen…

Ziel dieser Entwicklung ist die zweite Geburt (vgl. Anthroposophie: Anthroposophie als Menschheitsheilmittel): aus Wasser und Geist, sprich, aus den Kräften des leibfreien Ätherischen, im Denken geboren zu werden und aus diesem Geist heraus unsere Imaginationen zu teilen und Patienten zu heilen. Um diese Zusammenhänge zu wissen, ist von der allergrößten Bedeutung. Deshalb müsste immer die imaginative Christuswelt, die Christussphäre mitgedacht werden, wenn wir an den Ätherleib denken, weil die Christuskraft dort lebt und darauf wartet, von Menschen erkannt und gehandhabt zu werden.

Vgl. Vortrag „Gottesebenbildlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Leibes“ an der JK Dornach 2014

  1. Rudolf Steiner, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, GA 27.
  2. Ebenda, S. 5 (Ausgabe 2010).
  3. Rudolf Steiner, Das Zusammenwirken von Ärzten und Seelsorgern, GA 318.
  4. Müsste exemplarisch durchgerechnet werden…
  5. „Nicht ich, sondern der Christus in mir“ ist ein von Steiner öfter zitiertes Wort des Paulus. In: Galater 2, 20.
  6. Rudolf Steiner, Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium, GA 112; Das Lukas-Evangelium, GA 114; Das Matthäus-Evangelium. GA 123; Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums, GA 124;
    Der Vortrag, Der Weg des Christus durch die Jahrhunderte, Kopenhagen, 14. Oktober 1913 in: Vorstufen zum Mysterium von Golgatha, GA 152, S. 77-92 (1990) widmet sich ebenfalls ausführlich dieser Thematik: S. 80-91.