Gottebenbildlichkeit des Ich

Worin drückt sich Gottebenbildlichkeit des Ich aus?

Was offenbart sie dem Menschen?

Welche Aufgabe ist damit verbunden?

Botschaft des Ich

In Bezug auf unser Ich müssen wir uns ganz archetypisch klarmachen, dass jeder von uns dank der Evolution die Möglichkeit hat, zu sich selber „ich“ zu sagen. Gleichzeitig müssen wir es aber auch ohne jeden Neid aushalten können, dass jeder andere Mensch das Gleiche macht (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit): Wir sagen alle zu uns „ich“, benützen alle dasselbe Wort – und jeder meint nur sich: Ein und derselbe Gedanke wird also durch dasselbe Wort ganz individuell interpretiert!

Dieser Umstand weist auf einen „Archetypen der Entwicklung“ hin, ausgedrückt in den Worten aus Morgensterns Gedicht: „Die zur Wahrheit wandern, wandern allein.“1 Jeder versucht sein Ich zu erfassen und individuell zu erspüren durch alles, was er zu verstehen lernt – und das ist bei jedem Menschen individuell anders. Aber am Ende wird es so sein, wie in demselben Gedicht ausgedrückt: „Dann grüßt uns der Geschwister seliger Chor“. Man kann also sagen, wir wandern allein zur Wahrheit unseres eigenen Wesens – zum Ich, zum Mittelpunkt unserer Welt – und „keiner kann des anderen Wegbruder sein“. Wir können einander nur Hinweise geben, aber jeder muss diesen Weg alleine gehen. Wenn wir aber anfangen, diese Sphäre des Menschheitsstrebens zu erspüren und zu finden, können wir uns dort mit dem Streben anderer vereinigen und größtmögliche Freiheit sowie größtmögliche Sozialkompetenz und uns dadurch gegenseitige Hilfestellung erfahren. Das ist die Botschaft des Ich.

Stadien der Ich-Entwicklung

Es gibt vier zentrale Entwicklungsstadien der Ich-Bewusstseinsentwicklung:

1. Das „Ich bin ich“ zu denken beginnen

Das erste Stadium haben wir schon besprochen: Das Ich-Sagen mit zwei bis drei Jahren, wenn der Gedanke erwacht: Ich bin ich.

2. Das „Ich bin ich“ zu fühlen beginnen

Mit neun Jahren gelangt das Kind an den sogenannten Rubikon: Dann erwacht das Gefühl in Bezug auf den Gedanken: Ich bin ich. Dieses Stadium ist schwer zu ertragen. In einer ersten Phase fühlt es sich einsam auf dieser Welt, wie „verraten und verkauft“. Manche Kinder in diesem Alter fassen den Gedanken: Wartet nur, bis ich mal groß bin – dann mache ich alles anders! Sie spüren: Ich muss mich anpassen, muss irgendwie durchkommen, um groß zu werden und „das alles“ los zu sein. Viele ziehen dann sogar in Zweifel, dass sie das Kind ihrer Eltern sind, weil sie sich so anders fühlen als Mutter und Vater.

Ich löcherte meine Mutter, bis sie mir den Beweis lieferte, dass ich im Krankenhaus nicht vertauscht wurde oder heimlich zuhause untergeschoben wurde. Auf der einen Seite war ich dann tief befriedigt, dass ich wirklich zu dieser lieben Familie gehörte, aber ich war auch ein bisschen enttäuscht, weil ich alles so anders empfand als sie.

Warum Geschwister so verschieden sind

Die Verschiedenheit von Familienmitgliedern wurde großartig in dem folgenden Buch – „Warum Geschwister so verschieden sind“2 – beschrieben. Die Autoren, Robert Plomin, ein Verhaltensgenetiker, und Judy Dunn, eine Verhaltenspsychologin, befassten sich mit der Frage, welche Komponenten und Einflüsse den menschlichen Charakter formen. Auf der Grundlage ihrer eigenständigen Forschung kamen sie zu dem Schluss, dass die bis dahin tradierte Wissenschaftsmeinung, dass der Mensch nur von Vererbung und Milieu bestimmt wird, nicht stimmen konnte. Würde diese Theorie stimmen, müssten Geschwister einander viel ähnlicher sein, denn sie teilen das Elternhaus und den größten Teil des Erbmaterials.

Warum sind sie vom Charakter her dann so verschieden?

Geschwister sehen sich oft nur physisch ähnlich und haben einen ähnlichen Sprachklang, aber ihrem Wesen nach sind sie oft viel unterschiedlicher als gute Freunde. Die Autoren Dunn und Plomin haben rein phänomenologisch herausgefunden, dass es ein drittes Prinzip gibt, das „Prinzip Ich“. Diesem Prinzip ist es geschuldet, dass das Kind mit neun Jahren entdeckt: Ich bin anders, ich bin allein auf diesem Globus. Es fühlt sich einsam und zweifelt daran, jemals einen Freund zu finden...

Wenn nun die Erziehung bis zum 9. Jahr bereits hochdramatisch verlaufen ist und der Schutz fehlt, der das Erlebnis des Sich-als-Ich-Fühlens erträglich macht, halten Kinder dieses Erlebnis oft gar nicht mehr aus – sie werden in ihrer Ich-Entwicklung korrumpiert.

3. Das „Ich bin ich“ zu wollen beginnen

Das dritte Ich-Entwicklungsstadium wird mit ca. sechzehn Jahren erreicht – es ist eher glückhafter Natur. Der Jugendliche erkennt: Ich kann mich wollen! Das kann zu schönen Erlebnissen führen, wie im Falle Lusseyrans3, der mit seinem Freund verabredete, sich ab jetzt nur noch die Wahrheit zu sagen. Sie gehen miteinander die vertrauten Wege – und schweigen. Keiner sagt ein Wort, denn keiner weiß wirklich, was die Wahrheit ist. Das ist ein Beispiel dafür, dass der Wille im Denken erwacht. Der Jugendliche erkennt: Ich selbst muss entscheiden, was ich denken will. Wille und Selbstverantwortung werden im Denken geboren.

Als ich in dem Alter war, entdeckte ich plötzlich eine Sphäre, die völlig unabhängig ist von persönlichen Vorlieben. In meiner Klasse war ein Junge, mit dem ich die ganze Schulzeit hindurch kein Wort gewechselt hatte, weil ich ihn irgendwie doof fand. Als mir das mit sechzehn bewusst wurde, schämte ich mich zutiefst und beschloss mein Verhalten zu ändern. So ging ich in der Pause auf ihn zu und fragte ihn auf Schwäbisch: „Was hen mer denn jetzt?“ „Euro“ (als Abkürzung von Eurythmie), sagte er und ich erlebte ihn als ganz normalen netten Jungen. Auf diese Art entdeckte ich, dass die Verantwortung des Ich im Denken einer freien Sphäre entspringt, sodass es sich zu sich selbst und zur Welt ganz eigenständig positionieren kann. Das ist wie ein Geburtsmoment in der Jugend für den Willen zur Selbstschulung. Damit hängt zusammen, dass ganz viele Jugendliche in diesem Alter mit einer inneren Schulung an fangen.

Diese drei Ich-Erfahrungen – ich denke mich; ich fühle mich; ich kann mich wollen – sind verwurzelt im lebfreien Denken und sind somit ein reines Geschenk der Natur. Im Zuge der Entwicklung macht sie jeder Mensch, der einigermaßen gesund ist (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Die fünf Ebenen des anthroposophischen Menschenbildes).

4. Das „Ich bin ich“ als „Stirb und Werde“

Das vierte Stadium wird uns von der Natur nicht geschenkt. Denn die Naturwirkung gelangt, wenn wir ausgewachsen sind, in uns zu einem Ende. Dass zeigt sich darin, dass wir irgendwann zwischen 20 und 30 – es kann aber auch später sein – das Empfinden haben, dass uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird, dass wir in der Luft hängen: Alle Sicherheit des Sich-Denkens, Sich-Fühlens und Sich-Wollens fällt plötzlich weg. Es genügt nicht mehr, Familie zu haben und Karriere zu machen. Das kann unendlich schmerzhaft und bitter sein. Wir haben den Drang, wie an unseren eigenen Ursprung zurückzukehren, und uns in aller Einsamkeit zu fragen:

Warum bin ich auf dieser Welt?

Warum mache ich bei alledem mit?

Will ich mein Leben wirklich so führen, wie ich es bisher gemacht habe?

Geburtswehen der zweiten Geburt

Das sind die schmerzhaften Geburtswehen der sogenannten „zweiten Geburt“ (vgl. Anthroposophie: Anthroposophie als Menschheitsheilmittel). Wir sind in diesem Stadium aufgerufen, das In-Christo-Morimur selbst zu vollziehen, indem wir uns bewusst machen: In mir kommt die Schöpfung zu einem Ende; „von Natur aus“ kann und werde ich mich als Ich nicht weiterentwickeln. Dazu gehört auch die tiefgreifende Erkenntnis: Wenn wir unsere Ich-Entwicklung nicht aus freiem Entschluss fortsetzen, wird auch unser Wesen und Tun nicht ich-bestimmt sein. Dann werden andere Wesen sich unseres Ich bemächtigen und uns beherrschen. Wir werden wie die Elementarwesen sein, die nur „funktionieren“. Wir fallen damit aus der Christussphäre heraus, die ja vom Geschehen des freiwilligen In-Christo-Morimur lebt...

Im Ich finden wir den Tod, wenn wir dieses Ich nicht noch einmal ganz neu und selbständig „aus Wasser und Geist“, aus Liebe zur Entwicklung, ergreifen und unserem Leben eigenständig einen Sinn geben im Kontext der gesamtmenschlichen Entwicklung.

Jakob Böhme sagt: „Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt“.4 Wenn ich nicht „sterbe“, d.h. geistig in mich gehe und mich ganz neu aus eigener Kraft greife, wenn ich nicht wirklich bewusst wissen und bestimmen will, wer ich bin und werden möchte, werde ich sterben. Denn wer sich zu Lebzeiten nicht im Ewigen, im „ewigen Leben“ der Gedankensphäre, selbst begründet und befestigt hat, wird nach dem Tode einschlafen (vgl. Nachtodliches und vorgeburtliches Leben: Verbindung mit den Hierarchien auf Erden und im Nachtodlichen).

Vgl. Vortrag „Gottesebenbildlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Leibes“ an der JK Dornach 2014

  1. Christian Morgenstern, Die zur Wahrheit wandern. In: Christian Morgenstern, Stufen. 1922.
  2. Judy Dunn, Robert Plomin, Warum Geschwister so verschieden sind, Stuttgart 1996.
  3. Jaques Lusseyran, Das wiedergefundene Licht, Stuttgart 1963, 8. Aufl. 1977. Zitat im Kapitel Mein Freund Jean, S. 61.
  4. Ausspruch des deutschen Mystikers und Philosophen Jakob Böhme (1575-1625).