Heileurythmie - Herz der anthroposophischen Medizin

Inwiefern kann Heileurythmie als das Herz der medizinischen Bewegung gesehen werden?

Ein Grund, warum ich den Eindruck habe, dass die Heileurythmie das Herz der Anthroposophischen Medizin ist, hängt mit dem heutigen Medizinstudium zusammen: Das Medizinstudium ist durch und durch dem Geist der heutigen Zeit verpflichtet – einem Wissenschaftsverständnis rein materialistischer Art. Der Medizinstudent wird enorm belastet von all dem Wissen, das er im Grunde nicht versteht, nicht verstehen kann. Rudolf Steiner sagt über die Anthroposophie:

„So sollen wir auf dem Wege der Anthroposophie ausgehen lernen von der Erkenntnis, uns erheben zur Kunst und endigen in religiöser Innigkeit.“1

Das Belebende, das die Wissenschaft erlöst und verwandelt in echtes Verstehen, in intimes Begreifen, kann man ohne Eurythmie nicht kennen lernen. Warum? Weil Eurythmie das System der embryonalen Bildebewegungen aufgreift (vgl. Die ersten drei Jahre: Gehen – Sprechen – Denken: Embryonale Leibwerdung und Bildebewegungen).

Im Zuge unserer Ärzteausbildungen werden alle Grundelemente der Eurythmie durchgenommen:

  • Einmal, weil es immer schön ist, Eurythmie zu machen.
  • Zweitens bekommen die Ärzte so Zugang zur Heileurythmie.
  • Drittens lernt man durch Eurythmie wieder wahrzunehmen. Man lernt mit dem Herzen zu sehen, etwas sensibel zu verfolgen, z.B. einen Prozess an einer Pflanze.

Ihr könnt Euch kaum vorstellen, was für ein Augenöffner es ist, wenn man mit einer Gruppe von Ärzten, die das noch nie gemacht haben, in der allerersten Stunde der Ausbildung die geometrischen Grundformen übt – den Winkel, den Punkt, die Linie, den Kreis und die Parallelen, die sich im Unendlichen schneiden. Nachdem das eine Stunde lang geübt wurde, geht der Arzt hinaus in die Natur und sieht, wie Gott dort ‚geometrisiert’. Wie die Bäume unterschiedliche Gesten machen. Und dass es viele Punkte gibt, von denen ausgehend sich etwas ausdehnt – es fällt einem wie Schuppen von den Augen.

Die Bildebewegungen des menschlichen Organismus kann ich nachahmen, indem ich Eurythmie mache. Ich kann sie aber in einem ersten Schritt auch nur denken: Ich kann einen Winkel, einen Punkt, eine Linie denken. Und dann kann ich das, was ich gedacht habe – Anthroposophie beginnt in allen Bereichen mit Wissen, mit dem Denken – auch tun, mit meiner ganzen Gestalt ausführen und erkenne: Mein Wille ist realisierter Gedanke. Ich trage wirklich die Schöpferkräfte dieser Welt in mir, nicht nur in meinem Denken als leibfreie ätherische Kompetenz, als ‚ewiges Leben', sondern eben auch als ‚vergängliches Leben', als Prozess, als Bildebewegung, als Geschehen, als Substanzprozess. Je mehr ich von diesen Prozessen erlebe, erfahre und verwirkliche, umso mehr sehe ich sie auch um mich herum und in anderen.

Die Prozesshaftigkeit wiederentdecken

„Jede Form ist eine zur Ruhe gekommene Bewegung“2, sagt Rudolf Steiner. Mit diesem zur Erfahrung gewordenen Wissen kann ich alles, was sich gefügt und verfestigt hat, ebenso das, was sich kosmisch fügt, anschauen, auch eine Diagnose, und dabei die Prozesshaftigkeit, den Prozess der Menschengestaltung, empfinden. Von Heileurythmie und Eurythmie im Allgemeinen sagt Rudolf Steiner, dass sie den Willen wieder hereinbringen in die Menschheitsentwicklung. Sie bedeuten eine unermessliche Willensstärkung und Willenserziehung.

Auf der anderen Seite fördert Eurythmie das Denken mit dem Herzen, das mir offenbart, dass alles, was ich weiß, alles Gefügte und Geformte, ehemaliger Prozess ist und sich wieder verwandeln kann in Prozess, in Geschehen, in Metamorphose, in Entwicklung.

All das lernen wir im Medizinstudium nicht. Das müssten wir aber wissen, um Erkrankungs- und Gesundungsprozesse zu verstehen (vgl. Krankheit: Grundlegendes zu körperlichen Erkrankungen). Eurythmie hilft dem Arzt überhaupt erst Arzt zu werden. Denn ohne eine differenzierte Wahrnehmung des ätherischen Organismus (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des Ätherleibes), kann man Anthroposophische Medizin gar nicht wirklich anwenden. Die eigene Erfahrung mit der Eurythmie und Heileurythmie ist der beste Weg, um die ätherischen Kräfte zu erfassen und handhaben zu lernen.

Das Zentrum allen Ätherwirkens ist das Herz. Eurythmie ist nicht nur Willenserziehung, Willensoffenbarung und Leibergreifung, sondern auch reine Herzenssprache und Herzensoffenbarung. Das liegt nicht nur daran, dass die Eurythmie ihren Bildegesetzen nach dem Herzens-Lungen-Schlag entstammt. Es liegt vor allem daran, dass das Künstlerisch-Prozesshafte mit dem Herzen gemacht werden muss. Man kann nicht ausdrucksvoll oder prozessorientiert Eurythmie machen, wenn man nicht mit dem Herzen dabei ist.

Was aber, wenn man kein Herz hat, weil man zum Angsthasen erzogen wurde?

Wenn man immer Angst hat, etwas falsch zu machen?

Angst wird den Ärzten heutzutage antrainiert – immer auf der sicheren Seite zu sein. Dieses Angsttraining ist geradezu eine Gegenschule zu dem Wissen und der Tatsache, dass die einzig wahre Arznei Liebe ist. Angesichts dieser ahrimanischen Gegenschule der heutigen Zeit brauchen Ärzte die Heileurythmie und die Geisteswissenschaft, um das Liebesprinzip, die Herzenskultur, die einzig gesundende Arznei, wieder handhaben zu lernen. Das ist der Grund, warum es auch selbstverständlich ist, dass die Heileurythmie die Entwicklungsgeschichte der medizinischen Bewegung mit ihrer Hauptrepräsentantin Ita Wegman konsequent begleitet (vgl. Anthroposophische Medizin: Ita Wegmann und die Entwicklung der Anthroposophischen Medizin).

Das moderne Arzttum braucht Eurythmie, um sich öffnen zu können für das, was wirklich heilt, und um den kranken Organismus prozesshaft verstehen zu lernen. Dazu brauchen wir Ärzte auch das Gespräch mit den HeileurythmistInnen. Die Tatsache des gegenseitigen Brauchens wird immer evidenter: Die HeileurythmistInnen müssen sich dazu durchringen, die Erkenntnisseite ihrer Therapie etwas mehr zu pflegen und die Ärzte müssen sich dazu bewegen lassen, von ihrem Wissensthron herunterzusteigen auf die Herzensebene. Sie müssen das, was sie wissen, auch wirklich verstehen wollen, indem sie es für sich in Prozess und Geschehen übersetzen und künstlerisch durchempfinden lernen.

Vgl. Vortrag „Vom Wesen der Heileurythmie als Herzorgan der Anthroposophischen Medizin“, Dornach,
1. Weltkonferenz für Heileurythmie, 30. Mai 2008

  1. Rudolf Steiner, Anthroposophische Gemeinschaftsbildung. GA 257, 1. Vortrag, 23.01.1923.
  2. Rudolf Steiner, Eurythmie als sichtbare Sprache. GA 279, 10. Vortrag, 10.07.1924.