Die besondere Natur der Ideale

Ideale sind Gedanken von besonderer Art. Sie gehören zum intimsten, ja „heiligsten“, was ein Mensch in seiner Seele tragen kann. Man kann über sie spotten, sie lächerlich machen, sie fehlinterpretieren oder über Bord werfen – wer sich jedoch mit ihnen verbindet, erlebt, dass diesen Idealen nicht nur das Gedankenhaft-Ideelle innewohnt, das, was mit der Qualität von „Treue“, „Andacht“, „Wahrheit“, „Freiheit“ oder „Brüderlichkeit“ gemeint ist, sondern auch, dass sie die größten Kraftquellen sind auf seelisch-geistiger Ebene. Wer ein wirkliches Lebensideal gefunden hat, wird sich in allen Lebenslagen zurechtfinden und in gewissem Sinne unangreifbar sein. Es mag geschehen, was will, er wird immer etwas Sinnvolles, Fruchtbares daraus zu machen wissen. Woher kommt das? Von der Möglichkeit, sich mit einem Ideal ganz und gar zu identifizieren (vgl. Krise als Chance: Sieben Schritte aus der Krise). Diese Identifikationsmöglichkeit wirft aber nicht nur Licht auf das Wesen der Ideale, sondern auch auf das Wesen des menschlichen „Ich“.

Dies sei an einem Beispiel aus dem Johannes-Evangelium verdeutlicht. Denken Sie an das Wort: „Ich bin das Licht der Welt.“1 Man könnte das wie einen schlichten Vergleich ansehen: Christus vergleicht sein eigenes Wesen, sein Ich, mit dem Licht der Welt. Es kann aber auch Ausdruck seines Idealismus sein, dass er sich mit der ganzen Schöpfung identifiziert, verbindet – insbesondere aber mit dem Licht (vgl. Erziehung: Tieferer Sinn der Krippenarbeit).

Was ist die Qualität des Lichtes?

Licht macht alles sichtbar, obwohl es selbst nicht sichtbar ist. Es zeigt Einzelheiten, macht Zusammenhänge und Bezüge erkennbar, es erfüllt den Raum, lebt in der Zeit, es erscheint, verschwindet, dämmert und gibt uns überhaupt erst die Möglichkeit, die sinnliche Welt mit unseren Augen wahrzunehmen.

Hat die Wesenheit des Ich dieselbe Qualität?

Wer sich auf die Eigenart seines Ich besinnt, macht in diesem Zusammenhang die überraschende Entdeckung, dass dem tatsächlich so ist: Mit dem Wörtchen „ich“ ist etwas bezeichnet, das zwar alles ist, ohne aber selbst als solches in Erscheinung zu treten. Sagen wir nicht zu allem „ich“? (Ich bin so und so, ich mache, sehe das und das, ich habe vor... und was sind wir wirklich?)

Wir sagen zu allem insofern berechtigterweise „ich“, als alle Stoffe der Welt, alle Kräfte und Gesetze der Welt, die wir kennen, irgendwo am Aufbau und an der Entwicklung des Leibes beteiligt sind, mit dem wir uns identifizieren. Im Alten Testament wird vom Menschen gesagt, er sei die Krone der Schöpfung. Das ist eine sehr exakte Beschreibung, weil tatsächlich das gesamte Naturreich mit seinen Gesetzen in ihm wirksam ist (vgl. Wesensglieder: Grundlegendes zum Thema Wesensglieder). Aus dem Zusammenwirken von stofflicher Vielfalt mit all ihren Kräften und Gesetzen blickt am Ende eine menschliche Persönlichkeit in die Welt, die zu sich „ich“ sagt.

Andererseits wissen wir nicht wirklich, wer mit „ich“ gemeint ist. Wenn wir einander fragen – Wer bist du denn wirklich? – antwortet manch einer: Das weiß ich nicht. Selbst Goethe hatte Mühe, das Wesen des Ich zu beschreiben. Er macht die Bemerkung, dass man, wenn man den Charakter eines Menschen erfassen will, auf das sehen muss, was er getan hat und welche Wirkungen davon ausgegangen sind. Denn das geistige Wesen des Menschen ist zwar wirksam – man kann es aber nicht mit Augen sehen.

So erleben wir auch das Licht: Selbst unsichtbar wirkt es überall sichtbar machend, Zusammenhänge schaffend und verdeutlichend. Licht- und Ich-Natur lassen sich demnach nicht nur vergleichen, sie sind in gewisser Weise identisch.

So ist der Ausspruch des Christus – „Ich bin das Licht der Welt“ – nicht nur ein Vergleich, sondern zeugt von einer Identifikation. Dieses Element der Identifikation macht die Art und Weise aus, wie ein Mensch zu seinen Idealen steht. Wenn wir z. B. dem Ideal der „Treue“ folgen, so bemühen wir uns treu zu sein, uns ganz mit diesem Ideal zu identifizieren.

Und so kann auch ein Menschen-Ich dem Christus nachstreben und sagen: Ich möchte so werden, wie das weisheitsvoll die Welt erhellende reine Licht. Interessant ist, dass jemand, der ein Ideal hat, dieses Ideal in allem, was er tut, verwirklichen möchte.

Wird er sich selbst dabei untreu?

Oder ist das Ideal zum innersten Wesen seines Selbst, des Ich, geworden?

Indem ein Mensch zu einem anderen sagt: „Du bist aber lieb“, oder „Du bist ein Engel“, oder „Sei nicht so garstig“, taucht auch hier die Identifikation mit einer moralischen Eigenschaft, also mit einem Ideal, auf. Es liegt im Wesen des Ich, dass es selbst nicht in Erscheinung tritt, es sei denn, es verbindet sich mit etwas. Ich bin so gut und so schlecht, wie meine Ideen über mich und die Welt sind, nach denen ich handle und die ich durch mein ganzes Leben und Tun zum Ausdruck bringe.

„Bin“ ich also gar nicht „ich“, sondern das, wofür ich mich entscheide und womit ich mich verbinde? „Werde“ ich erst? Es ist wohl beides wahr: Ich werde immer mehr der, der ich in Wahrheit bin.

Wirksamkeit geistiger Wesen

Jeder Mensch, der an diese Grenze seiner Selbstbeobachtung stößt, erlebt sich wie an einem Abgrund zwischen zwei Welten, von der die eine sinnlich gegeben und die andere ideell-gedanklich zugänglich ist. Er erlebt sich durch seinen Leib in die sinnliche Welt gestellt und mit ihr identisch. Durch seine Gedanken jedoch ragt er hinein in die rein geistige Welt von moralischen Idealen und Intentionen. Diese können zu Kräften werden, die denjenigen befeuern, der sich mit ihnen verbindet.

Woher kommen diese Kräfte?

Sie kommen von den Wesen, die durch das entsprechende Ideal wirken, so wie der Christus wesenhaft in uns ist, wenn wir den Idealen folgen, mit denen er sich identifiziert hat, mit denen er wesensgleich geworden ist.

Wie es gute und böse Gedanken, Aufbauendes und Zerstörendes in der Welt gibt, so gibt es auch gute und böse Wesen, deren Intentionen in uns wirksam werden können, je nachdem, welchen Ideen und Idealen wir folgen. Das Denken eines Ideals ist gleichsam nur eine zarte Berührung mit einem geistigen Wesen, die in dem Augenblick zu einer Wesensbeziehung wird, in dem sich der Mensch innerlich verbindlich dafür entscheidet. Würden sich die geistigen Wesen dem Menschen aufdrängen und ihn mit Gewalt beherrschen, so wäre die Idee der Freiheit eine Illusion. Daher muss es dem Menschen selbst überlassen bleiben, welchen Idealen und Intentionen er folgen möchte (vgl. Geist und geistiges Wesen: Geisterkenntnis und Freiheit).

Wir können hier von der Wirksamkeit geistiger Wesen sprechen, die nicht in einem Naturzusammenhang verkörpert sind und dennoch im menschlichen Leben wirksam sind. Wer durch die Ideale von Freiheit und Liebe mit Christus verbunden ist, kann auch in schwärzeste Schicksalssituationen Licht bringen, indem er sich fragt:

Was kann ich durch diese Erfahrung über mich und die Welt auf dem Entwicklungsweg zur Freiheit lernen?

Wie kann diese Situation dazu beitragen, meine Mitleids- und Liebefähigkeit zu fördern?

Wer so vorgeht, hat durch seine Ideale ein Rüstzeug, mit dem er auch in schwerem Leid, Zusammenhänge herstellt und dadurch neue Kraft zum Weiterleben findet. Das Ich und dasjenige, womit es verbunden ist, das Ideal, beleuchtet die seelische Innenwelt in der gleichen Weise, wie das äußere Licht die sinnliche Welt sichtbar und damit zugänglich macht.

Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart**

  1. Joh 8,12.