Die Ich-Natur des Menschen – ein „zweischneidiges Schwert“

Beim Lesen der Apokalypse des Johannes erschüttern uns die ungeheuren Visionen des Bösen, die Schrecknisse bestialischer Ausbrüche der Menschennatur, die zunächst unversöhnlich neben den Offenbarungen des Christus-Prinzips zu stehen scheinen. Genau das aber weist auf das Geheimnis des individuellen menschlichen Willens hin. Es gehört zu den tiefsten Rätseln des Christentums, dass ihm der Passionsweg beigegeben ist. Das heißt, dass Folter, Martyrium und gewaltsamer Tod, begleitet von Hass, Hohn und Spott, als Offenbarungen der bösen Möglichkeiten der menschlichen Natur, „dazugehören“.

Dieses Rätsel kann sich lösen, wenn wir in der Ich-Natur des Menschen das zweischneidige Schwert erkennen, von dem in der Apokalypse die Rede ist.1 Diese Zweischneidigkeit ist mit der Freiheitsfähigkeit des Ich verbunden (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Das Geheimnis des Bösen im Spiegel der Apokalypse): Zum einen muss sich das Ich auf seinem Individualisierungsweg aus allem Vertrauten herauslösen und „es selbst“ werden. Zum anderen hat es die Möglichkeit, sich freiwillig wieder zu verbinden, zu identifizieren. Es hat immer wieder neu und geistesgegenwärtig die für den Augenblick stimmige Entscheidung zu treffen, so dass ein mittlerer Weg erlebbar und sichtbar werden kann.

Dieser Weg führt zwischen Willkür und Zwang, Hochmut und Selbstaufgabe, Verschwendung und Geiz, Tollkühnheit und Feigheit, den eigenen Bedürfnissen und denen des sozialen Umkreises, mitten hindurch. So darf es auch nicht wundern, dass die Abirrungsmöglichkeiten und Schrecknisse, die infolge der Ich-Begabung im Laufe der Menschheitsentwicklung noch auftreten werden, bildhaft in diesen apokalyptischen Schilderungen vorweggenommen sind. Sie sollen gerade nicht dazu führen, uns verzagt zu machen, sondern wollen vielmehr den Willen befeuern, sich für Handlungen zu entscheiden, die das Gute wollen.2

Als meditative Orientierung für die neue Führungs- und Sozialkultur (vgl. Zusammenarbeit: Vergangene, gegenwärtige und zukünftige Gesellschaftsformen) formulierte Steiner das „Motto der Sozialethik“:

"Heilsam ist nur, wenn im Spiegel der Menschenseele sich bildet die ganze Gemeinschaft und in der Gemeinschaft lebet der Einzelseele Kraft."3

Wenn der Einzelne bewusst und freiwillig seinen Beitrag dem Ganzen leistet und die anderen dabei unterstützt, dies auch zu tun, so können neue Verantwortungsstrukturen und soziale Arbeitsformen entstehen.4 Im Tun, im Verwirklichen des individuell Erkannten und von Herzen Gefühlten, liegt der Ansatz zu einer neuen Spiritualisierung der Kultur.

Vgl. Alte Mysterienstätten und neue Sozialkultur, in: Meditation in der Anthroposophischen Medizin, 1. Kap., Berlin 2016

  1. Neues Testament, Offenbarung des Johannes, Apokalypse 1,16.
  2. Peter Selg, Die «Wärme-Meditation»: Geschichtlicher Hintergrund und ideelle Beziehungen, Verlag am Goetheanum, Dornach 2013.
  3. Rudolf Steiner, Edith Maryon, Briefwechsel 1912-1924, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1990, S. 182.
  4. Michaela Glöckler, Rolf Heine (Hrsg.), Führungsfragen und Arbeitsformen in der anthroposophisch-medizinischen Bewegung, Verlag am Goetheanum, Dornach 2015.