Ich-Erleben, Identitätsentwicklung und Aggression

Wer ist es eigentlich, der handelt, will, fühlt und denkt?

Wer betätigt sich denn in Leib, Seele und Geist des Menschen?

Wer oder was ist diese Persönlichkeit, die ihr Zentrum im Gefühlsleben, in ihrer Beziehungsfähigkeit erlebt?

Wenn Gedanken, Wille oder Gefühle sich regen, geht dies immer von einem bestimmten Menschen aus. Wir rühren damit an das Geheimnis des menschlichen Ich, den Kern der Persönlichkeit (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit). „Personare“ heißt „durchtönen“. Persönlichkeit ist dem Wortsinne nach dasjenige, was von diesem menschlichen Ich durch Leib, Seele und Geist hindurchtönt und sich durch sie äußern kann. Diese drei erweisen sich somit bei genauerem Hinsehen als Arbeitsfelder des Ich, mit denen es sich auseinandersetzen und in denen es sich „inkarnieren“ (Leib), „beheimaten“ (Seele) und „selbst finden“ (Geist) muss.

Vertrauensvolles Hingegeben-Sein an die Umgebung

Es gehört zu den schönsten Beobachtungen, dieses Menschen-Ich beim Tätig-Sein unmittelbar wahrzunehmen als konzentrierte, gerichtete Aufmerksamkeit. Das beginnt schon im Säuglingsalter, wenn der Säugling hingebungsvoll wahrnimmt, was der Erwachsene mit ihm tut: Insbesondere das Schmecken der Nahrung wird so intensiv erlebt und gefühlt, dass der Leib des Kindes bis in die Fußspitzen hinein an diesem Vorgang mitbeteiligt ist. Das Ich ist sich zwar seiner selbst denkend noch nicht bewusst, erlebt sich jedoch empfindend und wollend sehr stark im vertrauensvollen Hingegeben-Sein an die Umgebung, die einen trägt, nährt, schützt und pflegt. Werden dieses Vertrauen und diese Hingabefähigkeit seitens der Erwachsenen mit liebevollem Interesse begleitet, so kann sich das in der Sinnestätigkeit anwesende aufmerksame Ich mit der Umwelt in Beziehung setzen und im Nachahmen des Erlebten sich selbst in seinem Körper als tätig erleben. Zurückweisung sowie körperliche Vernachlässigung und Misshandlung führen zum Rückzug des Ich aus seinem Leib. Die betroffenen Kinder fühlen sich in ihrem Leib unwohl und fremd und – im Falle der Misshandlung – auch qualvoll gefangen. Solche Entfremdungsprozesse machen es dem Ich schwer, sich zu verkörpern und heimisch zu werden im Leib. Jede Form von Unwohlsein und Selbstentfremdung fördert die Neigung zu aggressiven Willensäußerungen.

Phasen der Willensentwicklung als Arbeitsfelder des Ich

1. Bewegungsentwicklung und Aggression im Vorschulalter - Leib

Die Kindheit bis hin zur Vorpubertät ist andererseits das Lebensalter, in dem aggressive Willensäußerungen „normal“ und „altersentsprechend“ sind: In dieser Zeit muss das Kind Schritt für Schritt lernen, sich im Leib heimisch zu fühlen – das geht nicht ohne Krisen ab. Im Vorschul- und ersten Schulalter ist es gesund und normal, dass bewegungsfreudige Kinder sich auch körperlich begegnen, dass sie einander schubsen, drängeln, sich ärgern, kneifen, an den Haaren ziehen und Ähnliches. Die körperliche Begegnung ist ein wichtiges Feld der Selbsterfahrung, das in jeder Familie, in der mehrere Kinder sind, in reichem Maß gegeben ist. Diese Aktivitätsbereitschaft, das kindliche Willens- bzw. Aggressionspotential auf körperlicher Ebene auszuleben und „auszutoben“, ist in der Regel nicht besorgniserregend und sollte – wenn es nicht zu wirklich schlimmen Auswüchsen kommt – vom Erwachsenen auch nicht gestört und beeinflusst werden. Der Wille der Kinder wird nicht durch ständiges Ermahnen und Hinterherlaufen zu mehr Menschlichkeit erzogen, sondern durch altersentsprechende eigene Lebenserfahrungen und das Vorbild des Erwachsenen (vgl. Erziehung: Erziehung und Vorbild). Wenn ein Kind immer wieder geärgert, gekniffen, geschubst wurde, weiß es, wie sich das anfühlt und lernt, mit diesen Erlebnissen umzugehen und sie weder sich noch anderen zuzumuten. Was wir Aggressionspotential oder auch Angriffsbereitschaft nennen, ist nichts anderes als der auf körperlicher Ebene noch nicht beherrschte, noch nicht genügend auf bestimmte Handlungen gerichtete Wille des Kindes.

Willens- und Aggressionspotential sind identisch. Aggressivität ist der noch unkultivierte, noch nicht genügend gelenkte und gesteuerte Wille. Und so kann man Eltern von wilden oder auch aggressiven Kindern immer auch die hoffnungsvollen Worte sagen: Was sich jetzt in der Wut und im Toben äußert, sind dieselben Willenskräfte, mit denen der Mensch später Gutes bewirken kann, wenn er gelernt hat, sie unter die Herrschaft des Ich zu bringen. Daher findet in der Vorschulzeit und den ersten Schuljahren vorwiegend Willenserziehung über Bewegung (vgl. Wille(nsschulung): Aggression und Wille) statt.

2. Gefühlsentwicklung und Aggression im Schulalter – Seele

Das ändert sich mit dem achten, neunten Lebensjahr deutlich: Jetzt wird das Gefühlsleben der Ort, an dem die Willenserziehung sich fortsetzt. Es geht jetzt darum, sich mit den erwachenden Gefühlen und immer bewusster werdenden Emotionen und Trieben auseinanderzusetzen. Gefühle wie Scham, Schuld, Angst, Hass müssen durchlebt werden. Das Ich muss lernen, sich selbst in dieser Seelenlandschaft der Gefühle immer bewusster zu erkennen und auch auszudrücken. Dabei ist die Sprache die entscheidende Hilfe. Im Gespräch miteinander und mit Erwachsenen lernen Kinder, über Gefühle zu sprechen, sie auszudrücken und sie zu handhaben.

In dem Zusammenhang sei auch auf die Bedeutung der künstlerischen Erziehung für das Gefühlsleben hingewiesen: Jeder künstlerische Ausdruck ist auch ein Sprechen, nur mit anderen Mitteln als denen des Wortes. So kann man durch Farben, Formen, Töne und Bewegungen „sprechen“ und Gefühle zum Ausdruck bringen und diese bewusst formen und gestalten. Dadurch wird das Ich mit seiner Aufmerksamkeits- und Anwesenheitsbereitschaft auch im Gefühlsleben heimisch. Ein entscheidender Entwicklungsschritt wurde vollzogen, wenn Jugendliche sich anschreien oder heftig miteinander diskutieren – aber keinen Anlass mehr sehen, körperlich aufeinander loszugehen, sich quasi auf dieser Ebene zu „unterhalten“.

Für die Entwicklung einer gesunden Identität ist es notwendig zu lernen, sich mit allen Gefühlen nicht nur auseinanderzusetzen, sondern sie auch als zu sich gehörig anzunehmen. Nur dadurch wird auch der Umgang mit den negativen Gefühlen gelernt, wenn über Hass, Angst, Wut, Ohnmacht oder Ärger in der gleichen Weise gesprochen werden kann wie über Freude und Lust.

3. Entwicklung des Denkens und Aggression nach der Pubertät – Geist

Nach der Pubertät richten sich Aufmerksamkeit und Interesse des Ich primär auf das Denken. Schon vom elften, zwölften Lebensjahr an bemerken Kinder mit Freude, dass sie nicht nur in Worten denken, sondern auch unabhängig von bestimmten Worten Gedanken haben können. Es ist dies die Zeit, in der sie die sogenannten „Teekessel“ lieben und sich gegenseitig von Worten erzählen, die unterschiedliche Bedeutungen haben, wie z.B. der Schimmel als weißes Pferd und als bläulicher Belag auf dem Käse. Bevor einem bewusst wird, dass der gedanklich erfasste Sinn etwas über Worte Hinausgehendes und damit auch vom Wort Unabhängiges haben kann, sind Denken und Sprache noch sehr eng miteinander verbunden. In der Pubertät vollzieht sich zunehmend die Loslösung des Denkens von der Sprache und wird als eine gefühlsunabhängige, eigenständige geistige Betätigungsmöglichkeit erlebbar.

Der Jugendliche bemerkt diese wachsende Eigenständigkeit im Denken daran, dass er nun mit Hilfe des Denkens beruhigend auf sein Gefühlsleben einwirken kann. Er erlebt plötzlich die Möglichkeit, dass er zwar Wut empfinden kann, sie aber nicht in Wort oder Tat „herauslassen“ muss. Wenn er geärgert wird, kann er sich fragen:

Will ich mich überhaupt von diesem Blödmann ärgern lassen?

Er beginnt zu entdecken, dass ihm das Denken die Möglichkeit gibt, sich von der Umwelt zu distanzieren und damit auch gegen Angriffe „immun“ zu werden, sodass er nicht mehr auf alles und jedes reagieren muss, wie dies in früheren Jahren der Fall war. Er will und kann jetzt zunehmend selbst entscheiden, was für ihn richtig ist. Er lernt, geistige Auseinandersetzungen zu führen, bei denen polare Ansichten aufeinanderprallen, ohne dabei emotional zu werden und den anderen persönlich zu verletzen.

Jetzt findet die Willenserziehung im Bereich des Denkens statt, in der geistigen Betätigung und Auseinandersetzung. Damit haben die aggressiven Kräfte ein Gestaltungsfeld gefunden, auf dem sie sich trotz schärfster – geistiger – Angriffe gegenüber Lügen oder Ansichten, die man problematisch findet, betätigen können, ohne einem anderen Menschen dabei persönlich zu nahe zu treten oder ihn zu schädigen. Auf der geistigen Ebene ist die Auseinandersetzung, ja der Kampf zwischen verschiedenen Ansichten gesund und menschenwürdig, wenn es gelingt, auf der Gefühls- und Körperebene die Würde des anderen zu wahren. Je stärker das Selbstbewusstsein eines Menschen ausgebildet ist, umso leichter wird es ihm fallen, es bei der geistigen Auseinandersetzung bewenden zu lassen und nicht emotional zu werden. Denn er braucht das starke Selbsterleben in der emotionalen Entladung oder der aggressiven körperlichen Handlung nicht mehr, um seine Identität zu erleben und sein Selbstbewusstsein aufrechtzuerhalten. Er hat sich jetzt auf der dritten Ebene selbst verwirklicht: der geistigen.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 11. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997**