Identifikation und Inkarnation

Inwiefern spiegelt der menschliche Körper die Ebenen des Mensch-Seins?

Wie lässt sich das enge Zusammenspiel von Inkarnation und Identifikation erklären?

Der Bau des menschlichen Körpers entspricht den Arbeitsfeldern des Denkens, Fühlens und Wollens bzw. Tätig-Seins: Der Kopf kann sich allenfalls ein wenig drehen, wenn man ihn jedoch zum Denken benützen will, muss man ihn stillhalten. Hier muss Ruhe herrschen. So stellt der Kopf den Ruhepol des Körpers dar. Für die Gliedmaßen dagegen ist Bewegung das Normale als angemessener Ausdruck des Tätig-Seins. In der Körpermitte werden die beiden Qualitäten von Ruhe und Bewegung ausgeglichen: Das zeigt sich im rhythmischen Wechsel von Ein- und Ausatmung mit dem Ruheumschlagspunkt und beim Herzrhythmus mit Systole – Diastole – Diastase. Überall wo Polaritäten aufeinandertreffen, stoßen sie ein rhythmisches Geschehen an, das einen Ausgleich herbeiführt – so auch im Körper: Die Polarität von Kopf (Ruhe) und Gliedmaßen (Bewegung) findet ihren Ausgleich in den rhythmischen Körperfunktionen der Organe des Brustraumes. 1Dieses rhythmische Geschehen steht wiederum in enger Beziehung zu dem Auf- und Abwogen der Gefühle (vgl. Gefühle und Fühlen: Gefühl im Spannungsfeld von Sinneserfahrung und Denken) .

Was die verschiedenen Sublimationstheorien zu beschreiben versuchen, erhält durch die Anschauung von der Inkarnation und Identifikation des Ich als eines rein geistigen Wesens mit eigener Intention und gerichteter Aufmerksamkeit eine neue Dimension. Auf allen Ebenen muss „Aneignung“, „Vermenschlichung“ stattfinden! Das Ich muss lernen, den Körper mit seinen Trieben und Begierden zum Ausdruck bringen zu lassen, was es ist und tun will. Das betrifft auch die Welt der Gefühle und Gedanken. Gelingt die Aneignung von Körper, Seele und Geist nicht bzw. nur teilweise, bleiben bestimmte Vorgänge in Leib, Seele und Geist dem Menschen-Ich „fremd“. Es kann sich nicht mit ihnen identifizieren, kann mit ihnen nicht als mit etwas Eigenem umgehen. So kommt es zu den in der Psychologie beschriebenen Entfremdungs- und Abspaltungsprozessen, die sich nach außen in Form von Kontrollverlust oder Fehlverhalten bis hin zu bewusst gelebter „Unmenschlichkeit“ zeigen können. 2 Wenn ein Erwachsener wiederholt aggressiv reagiert oder sich auch, wie man so treffend sagt, als „kopflos“ oder „herzlos“ erweist, liegt eine tiefe Entwicklungsstörung vor, die ihre Ursache in Kindheit und Jugend des Betreffenden hat und an der therapeutisch gearbeitet werden muss.

Lebenslange Arbeit der Identifikation

Diese Arbeit der Identifikation auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene stellt für jeden Menschen eine lebenslange Aufgabe dar, die keinesfalls mit den Entwicklungsjahren abgeschlossen ist. Wie oft geschieht es z.B., dass wir uns nicht mit dem identifizieren können, was wir tun, fühlen oder denken! Wie oft haben wir etwas getan, von dem wir später sagen, dass wir es nicht gewollt haben, oder dass wir es gar nicht selbst gewesen sind! „Es“ hat in einem gelacht oder gefühlt. Ganz unvermittelt sind einem Gedanken gekommen oder Gefühle bzw. Emotionen aufgestiegen, die man nicht in der Hand hatte, so dass wir etwas getan haben, was nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann.

Andererseits gibt es auch Handlungen, mit denen wir uns ganz und gar identifizieren können: Das war ich, das habe ich getan, das wollte ich so. Auch gibt es Gefühle, die reinster Wesensausdruck des betreffenden Menschen sind und Ausdruck dessen, worin dieser völlig lebt und sich verwirklicht. Ebenso ist es mit all denjenigen Gedanken, die wir uns selbst erarbeitet haben und hinter denen wir „ganz stehen können“. Wer diese beiden Seiten seines Wesens – das, was er sich schon aneignen konnte und das, was noch fremd geblieben ist – betrachtet, rührt damit an die Problematik des „Nicht-Ich“, des „Gegen-Ich“, des „Schattens“, des „niederen Ich“ bzw. des Doppelgängers. Auf diese Thematik wird an anderer Stelle näher eingegangen (vgl. Partnerschaft und Ehe: Selbsterziehung in der Partnerschaft) .

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 11. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997**

  1. Vgl. Wolfgang Schad, Säugetiere und Mensch. Zur Gestaltbiologie vom Gesichtspunkt der Dreigliederung. Stuttgart 1985, 2. Aufl. 2012.
  2. Vgl. Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft. GA 34.