Identifikation und Schicksal

Wer bin ich wirklich?

Wer denkt eigentlich, wenn ich über mich nachdenke?

Doppeldeutigkeit des kleinen Wörtchen „ich“

Zu den Eigentümlichkeiten des kleinen Wortes „ich“ gehört es, dass jeder Mensch, der zum Selbstbewusstsein erwacht ist, dieses Wort auf sich selber anwendet, indem er sich selbst damit bezeichnet (vgl. Mut: Ich-Organisation und Ich-Wesen als Quelle von Mut). So wird es einerseits zum Allerpersönlichsten, was der Mensch empfinden und ausdrücken kann; andererseits verbindet es ihn mit allen anderen Menschen, da alle Menschen es auf sich anwenden. Hinzu kommt, dass dieses Wort anders gelernt wird als alle anderen Worte, die in den ersten Lebensjahren aufgenommen werden. Obwohl das kleine Kind ständig hört, wie die Menschen zu sich „ich“ sagen, nennt es sich zunächst mit dem Namen, mit dem es von seiner Umgebung gerufen wird und spricht von sich in der dritten Person: „Peter haben“ oder „Sabine auch gehen“. Es ist ein besonderer Moment, meistens im zweiten, dritten Lebensjahr, in dem das Kind plötzlich das Wort „ich“ benützt. Das ist oft mit einem besonderen Ereignis verbunden, mit dem Erleben von Freude oder Schreck. Das Kind weiß plötzlich: Ich bin ICH (vgl. Die ersten drei Jahre: Gehen – Sprechen – Denken: Denken – Selbstbewusstsein – Geisterkenntnis). Erstmals erlebt es selbstbewusst seine Identität. Von diesem Augenblick an zieht sich das „Ich“-Erleben als ein roter Faden des Selbstbewusstseins durch die Fülle der Lebenseindrücke und Erinnerungen.

Es gehört zu den Besonderheiten des Wortes „ich“, dass sein Inhalt schwer zu fassen ist. Die Freude, mit der ein dreijähriges Kind zu sich „ich“ sagt, und das stolze Aufstampfen, wenn es laut verkündet – „Ich will aber nicht!“ – verlieren im Laufe der Kindheit ihren Glanz und machen einer zunehmenden Unsicherheit Platz, die in der Pubertät kulminiert und den Jugendlichen so verwundbar macht. Er weiß nicht, wer er ist, er will nicht so sein, wie er ist, und schon gar nicht so, wie die Umgebung ihn haben möchte. Er will er selber werden, anders sein, eigen – aber wie? Und dann beginnt seine lebenslange Suche nach dem wahren Ich.

Das Ich als Wächter über sich selbst

Damit beginnt der Jugendliche aber auch immer stärker zu erleben, was er nicht ist oder nicht sein möchte (vgl. Jugend heute: Angst im Kleide der Depression bei Jugendlichen). Er entdeckt den Schattenwurf seines Lebens in Taten, Worten und Gedanken, die so waren, dass er sich ihrer später schämt bzw. sich gerne davon distanzieren würde. Er fragt sich: „Warum bloß habe ich diese verletzende Bemerkung gemacht? Es lag doch eigentlich gar kein Grund dafür vor. Und jetzt zieht das solche Kreise und beschäftigt mich das ganze Wochenende – so ein Blödsinn!“ „Ich war nicht ganz bei mir“, sagt man vielleicht hinterher bei sich selbst über solch ein Ereignis; aber es ist geschehen und bleibt mit dem eigenen Ich, mit der eigenen Person, verbunden. Denn niemand als man selber war es, der diese Verletzung ausgesprochen hat. So besitzt das Ich die Fähigkeit, sich selbst gegenüberzutreten und über sich selbst zu wachen und zu urteilen. Es kann wahrnehmen und bestimmen, was es als zu sich gehörig empfinden will und wovon es sich distanzieren möchte.

Wer übernimmt dafür die Verantwortung, wenn ich mich davon distanziere?

Kommt es auf den Müllplatz der Weltgeschichte?

Wer entscheidet, was damit geschieht?

Oder ist eine Tat nicht etwas, womit derjenige, der sie vollbracht hat, verbunden bleibt?

Alle Handlungen haben Konsequenzen

Spätestens mit diesen Fragen dämmert ein sehr konkreter Schicksalsbegriff auf: Man ahnt, dass jede noch so kleine Handlung, jedes Gefühl und jeder Gedanke etwas bewirken, das nicht mehr rückgängig zu machen ist, weil es bereits geschehen ist. Der Gedanke wurde gedacht, das Gefühl bekam Raum in der Seele, die Handlung wurde ausgeführt (vgl. Schicksal und Karma: Konsequenzen von Handlungen und Lebensgewohnheiten für den weiteren Verlauf des Schicksals).

So erschreckend diese Erkenntnis vielleicht auch sein mag, so großartig ist sie doch auch. Denn sie besagt, dass ich nicht nur mit Taten verbunden bin, mit denen ich mich identifizieren kann, zu denen ich mich voll bekenne als von mir gewollt und getan, sondern auch mit Taten, bei denen ich mich unfrei, schwach, als „nicht ich selbst“, unter dem Zwang von Emotionen oder Irrtümern stehend erlebte. Alle Ereignisse und Taten wirken als die meinen fort; sie sind von mir ausgegangen und haben ihre Konsequenzen für mich und andere im weiteren Verlauf des Lebens. Das Fortwirken von beidem, den selbstgewollten, bejahten und den ungewollten, nicht bejahten Taten, überdauert auch meinen Tod und bildet und bestimmt mein Schicksal mit (vgl. Schicksal und Karma: Ich-Erleben und Schicksalsgestaltung).

Die Gnade, selbst bereitetes Schicksal zu verwandeln

Damit wird deutlich, dass mein Schicksal nicht etwas ist, das mir blind oder zufällig „zu-fällt“. Vielmehr bin ich es selbst, der es sich zubereitet hat und der es verwandeln, „erlösen“ oder weiterentwickeln kann. Das hat jedoch nichts mit einer „Selbsterlösungstheorie“ zu tun – ein Vorwurf, der der Anthroposophie bisweilen von kirchlicher Seite gemacht wird. Vielmehr wird damit dem in der christlichen Prophetie liegenden Freiheitsimpuls Rechnung getragen. Das johanneische Prinzip – „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“1 – will jedem Menschen bewusst machen, dass er zu Freiheit und Mitverantwortung berufen ist. Freiheit ist jedoch ohne die Möglichkeit, eben diese Freiheit zu missbrauchen, nicht denkbar (vgl. Geist und geistiges Wesen: Geisterkenntnis und Freiheit). Demgemäß kann Gnade als die Möglichkeit gesehen werden, aus eigener Kraft etwas zum Ausgleich unserer Verfehlungen zu tun. Das steht nicht im Widerspruch zum christlichen Erlösungsgedanken – denn es liegt gerade in diesem Erlösungsgedanken, dass das menschliche Ich durch seine innere Teilhabe an der Liebe des Christus für alle Menschen die Kraft bekommen hat, Schicksal in Freiheit und Würde gestalten zu lernen – für sich selbst und für andere.

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 2. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004

  1. Neues Testament, Joh.8,32.