Das Kind erkennen, verstehen, unterstützen

Aus der Psychologie ist bekannt, dass eine gesunde seelische Entwicklung einher geht mit einem gewissen Maß an Selbstvertrauen und der Fähigkeit zur Wertschätzung. Deshalb ist es so wichtig, dass Eltern, Lehrer und Therapeuten das Kind erkennen und seine Verhaltensweisen verstehen lernen – auch oder gerade, wenn es auffälliges Verhalten zeigt: Wenn ein Kind aggressiv und unstet ist und alles kaputt macht, was es in die Finger bekommt, wenn es nichts wertschätzen kann, sind Eltern oft ganz verzweifelt, weil sie Angst haben, es nicht mit „normalen“ Reaktionen zu tun zu haben. In diesem Fall ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie zu erkennen versuchen, welche Begabungen sich hinter dem problematischen Verhalten verbergen:

Zeigt ein Kind nicht unbändiges Interesse an der Umgebung, wenn es alles anfasst?

Will es den Gegenstand vielleicht nur „untersuchen“ und gar nicht kaputt machen?

Unruhige, ständig herumsausende Kinder haben auch eine enorme Bewegungsbegabung und wenn sie auf wildfremde Leute zuzugehen – was einem angst und bange machen oder nur als Distanzlosigkeit erscheinen könnte – zeigen sie im Grunde rückhaltloses Vertrauen.

Interesse und Fragehaltung vertiefen

Belegt man die Verhaltensweisen nicht von vornherein mit einem negativen Urteil, sondern stellt einfach fest, dass dieses Kind über diese spezielle Konstitution verfügt und lernen möchte, die damit verbundenen Eigenschaften handhaben zu lernen, entwickelt man eine positive Erwartungshaltung ihm gegenüber. Dann kann man sich als Eltern, Lehrer und Therapeuten fragen, wie kann ihm helfen kann, damit es seine Möglichkeiten und Anlagen in den Griff bekommt.

Es gilt also, die wahrnehmbaren Eigenschaften und Verhaltenselemente sachlich anzuschauen und sich ein Bild davon zu machen, was aus dem Kind werden kann, wenn es gelernt hat, mit sich und seinen Möglichkeiten umzugehen. Auch kann es sehr hilfreich sein, sich die Frage zu stellen:

Wie war dein früheres Erdenleben, dass du jetzt mit diesen Anlagen und Aufgabenstellungen zu uns gekommen bist?

Durch dieses fragende Interesse wird die Verständnisbereitschaft dem Kind gegenüber vertieft.

Vertrauensvorschub

Ist es nicht im Grunde ein großer Vertrauensvorschub, dass sich gerade die „schwierigen“, einseitig begabten Kinder zu uns wagen in der Hoffnung, dass wir ihnen helfen und sie verstehen werden?

Diese Hoffnung, diese Aufforderung ist nonverbal einfach durch die Tatsache gegeben, dass dieses Kind nicht bei den Nachbarsleuten zur Welt kam, sondern bei eben diesen Eltern oder dass es auf uns als Betreuer, Erzieher, Therapeuten gestoßen ist. Dieses nonverbale tiefe Vertrauen des Kindes – Du bist der Mensch, auf den ich setze, mit dir habe ich etwas zu tun und deswegen bin ich zu dir gekommen – kann man sich als Erwachsener immer wieder vor Augen führen und daraus Kraft und Motivation schöpfen.

Damit sind wir wieder in dem Bereich, wo man sein Denken und Fühlen miteinbeziehen muss, um die tieferen Schichten der menschlichen Existenz wahrnehmen zu können, um zu erkennen, was wahr ist. Die Wahrheit muss man fühlen – und einsehen. Nur mit dieser Haltung kommt man der Beantwortung der Frage näher:

Warum hat mir mein Schicksal ein Kind gegeben, das zu lieben mir solche Mühe macht?

Als Erwachsene, die dieses Kind umgeben, sind wir aufgerufen etwas zu tun, nicht nur etwas von ihm zu erwarten oder zu fordern. Wir müssen es fragen:

Woher kommst du?

Was willst du hier?

Was willst Du erreichen?

Was kann ich für Dich tun?

Du kannst, was du willst

Nichts stärkt das Selbstvertrauen eines Kindes mehr, als zu erleben, dass es etwas kann. Das gilt für alle Kinder. Zu diesem Erleben des eigenen Könnens gehört aber auch, dass der Erwachsene das Erreichte wahrnimmt, es bestätigt, sich darüber freut. Leistungen, für die sich das Kind angestrengt hat, dürfen nicht übersehen werden, eine Arbeit, die das Kind verrichtet hat, sollte anerkennend begutachtet werden usw. Sonst kommt es zu schweren Kränkungen, die zu späterem Fehlverhalten führen können.

Wer in der Kindheit Demütigung und Vernachlässigung erfahren hat und diese Erfahrungen im Laufe der Entwicklung nicht für sich verarbeiten und zurechtrücken konnte, neigt im späteren Leben dazu, sich unbewusst-instinktiv für das Unrecht, das ihm angetan wurde, zu rächen: So jemand genießt es dann, über andere Macht auszuüben und über Unmündige zu herrschen. Er wird nicht selten auch zum Täter, der Gewalt anwendet und sein Verhältnis zum Kind missbraucht.

Aber auch unsachgemäße, übertriebene Beurteilungen stellen eine Gefahr dar. Das Kind weiß selbst recht genau, ob ihm etwas geglückt ist oder nicht. Und so ist es enttäuscht, wenn der Erwachsene alles, was es ihm zeigt, mit einem stereotypen oder überschwänglichen – „Das hast du aber schön gemacht!“ – belohnt. Das Lobenswerte zu loben und das Verbesserungswürdige ehrlich beim Namen zu nennen und nächste kleine Schritte für das weitere Tun und Lernen aufzuzeigen, unterstützt das Kind in seiner Entwicklung. Mehr erwartet es nicht. Wenn es in dem Bewusstsein lebt, dass es alles, was es ernsthaft erreichen möchte, auch erreichen kann, und der Erwachsene es dabei unterstützt – so stellt sich ein elementares Freiheitsempfinden ein, das zu weiterer Arbeit motiviert.

Absage an Perfektion

Eltern oder auch Lehrer, die sich vor dem Kind stets als die Menschen geben, die alles richtig machen und die dem Kind ständig sagen, was es alles nicht kann und wie es dies und jenes besser zu machen hat, erzeugen nicht nur Unlust beim Kind, sondern auch das Verlangen, eines Tages als Erwachsene auch anderen sagen zu können, wo es langgeht.

Mensch-Werden bedeutet jedoch, Entwicklung ernst zu nehmen, lebenslang weiter zu lernen und offen bleiben für immer neue Entwicklungsschritte und Veränderungen – vor allem aber, sich selbst zu sagen, wo es langgehen soll. Das bedeutet eine Absage an die Illusion der Perfektion.

Daher ist es von unschätzbarem Wert, wenn Kinder an ihren Eltern und Erziehern erleben, dass auch diese selbst noch auf dem Weg sind, dass sie Fehler machen und zugeben und bereit sind, aus ihnen zu lernen. Das schafft ein Klima brüderlicher, partnerschaftlicher Verbundenheit und hilft auch, Phantasie zu entwickeln für den nächstmöglichen, wenn auch noch so kleinen Entwicklungsschritt bei sich selbst und beim Kind.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003