Der Blick eines drei Monate alten Kindes

Aus der Entwicklungspsychologie, aber auch aus eigener Erfahrung, ist gut bekannt, dass ein Säugling im dritten Monat Menschen und Dinge mit seinem Blick zu fixieren beginnt. Erst von diesem Zeitpunkt an kann er Gegenstände wirklich wahrnehmen. Die vollständige Ausreifung des Sehvermögens bis hin zur Wahrnehmung aller Farbschattierungen dauert jedoch sechs bis acht Jahre; der physiologische Sehvorgang reift von Tag zu Tag weiter aus (vgl. Erziehung: Stadien der menschlichen Entwicklung).

Ein ganz besonderer Einschlag erfolgt jedoch im dritten Monat. Von diesem Zeitpunkt an nimmt das Kind uns immer direkter und konkreter wahr und sucht mit den Augen die Beziehung zu uns, mit einem Blick, der uns ganz zu durchdringen scheint; ein Säugling wendet seinen Blick auch nicht ab – wir können in Ruhe und unverwandt in seine offenen, klaren Augen schauen. Aus ihnen spricht eine geistige Liebeskraft, die objektiv, vertrauensvoll und trotzdem ganz persönlich ist. Nur Liebende schenken einander einen vergleichbar langen Blick.

Unsere Blicke können „ätherisch“ tasten; wir merken das in Momenten, wenn wir den Blick eines Menschen auf uns fühlen – im Guten wie im Schlechten, denn dieses Tasten kann auch von unsauberen Gefühlen begleitet sein. Wie sehr kann ein guter, von reinen Gefühlen begleiteter Blick dagegen aufmuntern, heilen, trösten und Licht bringen! Der Ätherleib (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des Ätherleibes) - d.h. die Summe aller, das Leben unterhaltenden Gesetzmäßigkeiten - kann sich aus dem Auge relativ frei, gelenkt durch die Blickintention, bewegen. Sehen ist ein ätherisches Abtasten, Formen-Abgreifen und Nachbilden. Die Augenmuskeln helfen dem Auge, sich beim Sehen immer mitzubewegen; es ist im Grunde wie eine „ätherische Kamera”, mit der wir alle Sinneseindrücke abtasten, aufnehmen und dem Gedankenleben als Vorstellungen einprägen. Da wir mit dem aus der körperlichen Lebenstätigkeit heraus entlassenen Ätherleib denken (vgl. Wesensglieder: Die Metamorphose der Wesensglieder in leibfreies Denken, Fühlen Und Wollen), können wir uns das, was wir sehen, auch sogleich innerlich vorstellen, wenn wir die Augen schließen und uns daran erinnern.

Dieser Blick des Säuglings kann uns ein Bild dafür sein, wie wichtig eine reine, ehrliche Beziehung ist. Denn das Kind, das uns mit ernstem, vertrauenden Blick anschaut, prüft uns und fragt:

Stehst du zu mir?

Gibst du mir, was ich brauche?

Kann ich dir wirklich vertrauen?

Gehst du ein Stück Wegs mit mir?

All das leuchtet vor unserem inneren Auge auf, wenn wir dem ernsten, fragenden, vertrauensvollen Blick des Säuglings begegnen. Wir erkennen unsere Aufgabe, wieder so beziehungsfähig zu werden, wie wir es selbst einmal als kleines Kind waren – und diesen Blick nicht zu enttäuschen.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 3. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft**