Erzählen und Vorlesen als Ressource

Neben Spiel und Gespräch sind Vorlesen und Erzählen von Märchen entscheidende Ressourcen, die ihre salutogenetische Bedeutung auf unterschiedliche Weise im Lauf des Lebens zeigen. Dabei geht es nicht nur um den differenzierten Wortschatz, die bilderreiche Sprache und die Inhalte, die stets Entwicklungs- und Lebenswahrheiten in knapper Folge zusammenge¬fasst darstellen, sondern vor allem um das, was sich zwischen dem, der spricht, und dem, der zuhört, abspielt. Im Zuhören öffnet sich das Kind und ist, wenn mit Anteilnahme am Geschehen erzählt wird, „ganz Ohr“. Dabei übt es Aufmerksamkeit, Interesse und Konzentration aufzubringen. Im Wiedererzählen und Hören derselben Geschichte – was Kinder unter fünf Jahren ganz besonders lieben! – übt es auch, etwas zu vertiefen und damit zu leben. Dieser Prozess der Anteilnahme an gemeinsam Erlebtem fördert zudem in schönster Weise die Beziehung selbst. Dabei ist auch das Gespräch über das eine oder andere Erlebnis im Märchen entscheidend, weil damit die Möglichkeit gegeben ist, an Alltagserlebnisse anzuknüpfen.

Sprache „aus der Konserve“

All dies leistet der „permanente“ Erzähler1 in Form von Radio, CD und Fernsehen nicht; auch konnte bisher kein sprachfördernder Effekt eindeutig nachgewiesen werden. Denn das Erlernen von Sprache braucht den lebendigen Sprecher. Nicht nur das Kennen von Worten, sondern der verständnisvolle Umgang damit macht Sprache zu dem Kommunikationsmittel. Alarmierend sind die Artikel in Fachzeitschriften über den Sprachverfall bei Kindern, das Verstummen, ganz zu schweigen von der ständig steigenden Zahl an Sprachstörungen.2

Die „permanenten“ Erzähler bieten dem Zuhörer im Grunde nicht einmal eine Pause für eigene Gedanken. Im Gegenteil, alles Gebotene läuft mit einer kaum nachvollziehbaren Geschwindigkeit ab. Vor allem aber können die „permanenten“ Erzähler selbst nicht zuhören! Aber nur die wirklich dialogische Beziehung erweist sich auf Dauer als gesundheitsförderliche Ressource im Unterschied zur bloßen Ablenkung, Beschäftigung oder Betäubung eigener Gedanken und Motivationen.

Wechsel zwischen Erzählen und Zuhören

Zum Dialog gehören der Wechsel zwischen Erzählen und Zuhören wie auch das gemeinsame Nachsinnen. Das Kind vertieft sich ganz in das Erzählte, das in inneren Bildern in ihm aufsteigt, es reagiert mit Staunen, Freude oder atemloser Spannung und sagt vielleicht am Schluss: Noch einmal! Oder es räkelt sich glücklich und zufrieden in seinem Bettchen oder in der Kuschelecke des Sofas. Dann ist auch die Situation gegeben ein Gespräch anzufangen:

War das alles so gut, wie es gewesen ist?

Hat hier einer Unrecht getan, ein anderer vielleicht gerade noch einmal Glück gehabt, weil er die Wahrheit sagte?

Wenn man einen Tag so beendet, die Geschehnisse noch einmal an sich vorüberziehen lässt oder das eine oder andere Problem aus unterschiedlichen Perspektiven anschaut und vielleicht noch ein Lied singt, beinhaltet dieses Abendritual Musik, Sprache, lebhafte Gefühle, menschliche Begegnung, Beziehungspflege – im Grunde alles, was das Leben schön macht.

Zudem ist der Erwerb einer guten Ausdrucks- und Sprachfähigkeit das beste Mittel zur Vorbeugung aggressiver Neigungen oder Handlungen. Weil man nicht schlägt, solange man noch miteinander reden kann – weil man gelernt hat, zuzuhören und den anderen nicht „an die Wand zu reden“. Der Zwischenraum zwischen Menschen wird durch Sprache gestaltbar, der Abgrund zwischen Mensch und Mensch hat eine Brücke, die Bewegung in beiderlei Richtung zulässt.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003

  1. Eckhard Schiffer, Wie Gesundheit entsteht, a.a.O.
  2. Rainer Patzlaff, Sprachzerfall und Aggression. Geistige Hintergründe der Gewalt und des Nationalismus, Stuttgart 1994.