Kindheit im Wandel der Zeiten

Wenn wir davon sprechen, was das Kindsein heute mit sich bringt, gehen wir gleichzeitig davon aus, dass es im Hinblick auf die Kindheit auch ein Gestern gibt und ein Morgen geben wird. Jedem Erwachsenen, der sich an seine Kindheit erinnert, wird sofort deutlich werden, wie anders es früher im Vergleich zu heute war. Jede neue Erfindung, vor allem im Bereich der Technik, bringt neu Herausforderungen mit sich und verlangt eine Anpassung und Änderung der menschlichen Gewohnheiten.

Vor etwas über 150 Jahren, als die ersten Eisenbahnen mit einer Geschwindigkeit von 30 km/h fuhren, erhoben Arzte besorgte Einwände und meinten, die Geschwindigkeit der Züge würde bei Reisenden wie Zuschauern zu Gehirnerkrankungen. Tunnel gaben zu ärztlichen Warnungen vor einem gefährlichen Luftwechsel Anlass. Schilderungen aus dieser Zeit belegen, dass die Sinne größte Schwierigkeiten hatten, den Raum bei dieser Geschwindigkeit richtig zu erfassen. Dennoch sind diese Befürchtungen nicht eingetreten. Und heute erleben Kinder und Jugendliche auf den Rummelplätzen in den Achterbahnen – wenn auch nur für Sekunden – Geschwindigkeiten und Körperbelastungen wie bei dem Start einer Rakete – und halten es aus.1

Überschreitung der Grenze des Menschenmöglichen

Ein anderes Beispiel ist das Bergsteigen. Was vor hundert Jahren noch als „Grenze des Menschenmöglichen“ gegolten hatte und nur von Einzelgängern bewältigt wurde, wird heute bereits von Anfängern geklettert. Zu jeder Zeit entsprachen die erbrachten Leistungen jeweils auch der Grenze des Menschenmöglichen. Dass einzelne Bergkletterer eines Tages ohne jegliche Hilfsmittel äußerst schwierige Felswände erklettern, wie sie dies heute tun, hätte vor zehn Jahren sicher noch als ein Ding der Unmöglichkeit gegolten.2

Bedenkt man die rasante Entwicklung auf allen Gebieten, die sich allein im 20. Jahrhundert vollzog, und wie die Menschen damit fertig wurden, liegt es nahe zu denken, dass Kinder, die heute zur Welt kommen, auch für die gegenwärtigen Herausforderungen gerüstet sind. „Er sah, dass sein Kind ihm in vielem voraus war. Und er war der Zeit, der Gegenwart dafür dankbar“, so Peter Handke in seiner „Kindergeschichte“3. Kinder bringen neue Fähigkeiten mit, um mit den Gegebenheiten, in die sie hineingeboren werden und die noch auf sie zukommen, fertigzuwerden. Sie sind für sie Anlass, einen weiterführenden Entwicklungsschritt zu meistern.

Inneren Auftrag erfüllen helfen

Außerdem müssen wir bedenken, dass jede Generation von Kindern aus dem früheren Erdenleben, aus dem Vorgeburtlichen, ganz bestimmte Impulse mitbringt in Bezug auf das, was sie hier auf der Erde tun wollen. Sie kommen mit einem Vorhaben, einem inneren Auftrag, den sie sich selbst gegeben haben. Sie wünsche sich, dass er ernst genommen wird. Deswegen gibt es ja auch nichts Schlimmeres für Jugendliche, als zu erfahren, wen sie keine Arbeitsstellen finden und sie so erleben, dass sie gar nicht gebraucht werden.

Oft regieren sie mit einer mehr oder weniger bewussten Stimmung der Verzweiflung, Sinnlosigkeit oder auch Wut gegenüber diesen Verhältnissen. Das äußert sich als Lustlosigkeit, Depression, Angst, zeigt sich aber auch in aggressiven, provokativen oder kriminellen Verhaltensweisen.

In vielen Publikationen werden Kinder von heute als hochbegabt, spirituell begabt, als „Indigo“- oder „Sternen“-Kinder, bezeichnet.3 Was bei der Lektüre dankbar stimmt, ist die Tatsache, dass die Bücher eine Signalwirkung haben: Schaut euch die neue Generation an, nehmt wahr, was sie mitbringt, nehmt sie ernst! Problematisch sind solche Bücher, wenn sie zu neuen Klassifizierungen führen und damit wieder nicht erreicht wird, was Steiner schon 1919 forderte, nämlich dass man dem Verhalten jedes Kindes individuell ablesen sollte, wie man mit ihm umzugehen hat. Das gelingt nur, wenn wir Kindern mit einer inneren Fragehaltung begegnen:

Was bringst du mit als Botschaft aus der geistigen Welt?

Was hast du vor?

Welche Temperamentsmischung kennzeichnet dich?

Sind deine Hände, dein Kopf so geformt, dass du ihre Funktionen gut aufeinander abstimmen kannst, oder weiß der Kopf nicht, was die Hände tun und umgekehrt?

Jedes Kind hat eigene Impulse mitgebracht und sucht nach Möglichkeiten, sich darüber klarzuwerden, wofür es angetreten ist. Keines will typisiert, rubriziert und diagnostiziert werden.

Wunderkinder bei Goethe und Schiller

Kinder mit besonderen Schwierigkeiten und erstaunlichen Fähigkeiten gibt es nicht erst heute. Auch spirituelle Begabungen waren schon in jeder Generation des 20. Jahrhunderts zu finden.5 Schon Goethe und Schiller bewegten solche Gedanken. Goethe schreibt in „Dichtung und Wahrheit“6:

„Wir können die kleinen Geschöpfe, die vor uns herumwandeln, nicht anders als mit Vergnügen, ja mit Bewunderung ansehen: denn meist versprechen sie mehr, als sie halten, und es scheint, als wenn die Natur unter anderen schelmischen Streichen, die sie uns spielt, auch hier sich ganz besonders vorgesetzt, uns zum Besten zu haben. Die ersten Organe, die sie Kindern mit auf die Welt gibt, sind dem nächsten unmittelbaren Zustand des Geschöpfes gemäß; es bedient sich derselben Kunst auf die geschickteste Weise zu den nächsten Zwecken. Das Kind an und für sich betrachtet mit seinesgleichen und in Beziehungen, die seinen Kräften angemessen sind, scheint so verständig, so vernünftig, dass nichts drübergeht, und zugleich so bequem, so heiter und gewandt, dass man keine weitere Bildung für dasselbe wünschen möchte.

Wüchsen die Kinder fort, wie sie sich andeuten, wir hätten lauter Genies.

Aber Wachstum ist nicht bloß Entwicklung; die verschiedenen organischen Systeme, die einen Menschen ausmachen, entspringen auseinander, folgen einander, verdrängen einander, ja zehren einander auf, so dass von manchen Fähigkeiten, von manchen Kraftäußerungen nach einer gewissen Zeit kaum eine Spur mehr zu finden ist. Wenn auch die menschlichen Anlagen im Ganzen eine entschiedene Richtung haben, so wird es doch dem größten und erfahrensten Kenner schwer sein, sie mit Zuverlässigkeit voraus zu verkünden; doch kann man hintendrein wohl bemerken, was auf ein Künftiges hingedeutet hat.“

Dass Kinder dem Himmelreich nahestehen, war ein Topos durch die Jahrhunderte. Schiller sieht nicht erfüllte, aufgegebene Ideale auf rührende Weise in Kindern verkörpert:7

„Nicht weil wir von der Höhe unserer Kraft und Vollkommenheit auf das Kind herabsehen, sondern weil wir aus der Beschränktheit unseres Zustands, welche von der Bestimmung, die wir einmal erlangt haben, unzertrennlich ist, zu der grenzenlosen Bestimmbarkeit in dem Kinde und zu seiner Unschuld hinaufsehen, geraten wir in Rührung. In dem Kinde ist die Anlage und Bestimmung, in uns ist die Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt. Das Kind ist daher eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen, und es ist also keineswegs die Vorstellung seiner Bedürftigkeit und Schranken, es ist ganz im Gegenteil die Vorstellung seiner reinen und freien Kraft, seiner Integrität, was uns rührt. Dem Menschen von Verstand wird ein Kind ein heiliger Gegenstand sein.“

Aufgrund der Resilienzforschung wissen wir heute, in welch hohem Maß die Auffassung Goethes zutrifft. Begegnen wir Kindern mit der heiligen Freude an ihrem So-Sein, mit dem Willen, ihnen bei ihrer Entwicklung und Selbstfindung beizustehen, so lernen sie, von ihren Begabungen den besten Gebrauch zu machen. Gelingt das nicht, verkümmern oder verkehren sich ihre Anlagen und ursprünglich gute Kräfte, wie Intelligenz, Sensibilität, Impulsivität und Willensstärke, und treten einseitig, egozentrisch verzerrt oder destruktiv auf.

Die Haltung entscheidet

Kinder zu begleiten heißt heute, wirklich zu schauen, was jemand aus seiner Vergangenheit ganz individuell in dieses Heute herein bringt.

Was können wir tun, damit aus diesem Heute ein befriedigendes Morgen wird?

Kinder zu begleiten heißt heute, wirklich zu schauen, was jemand aus seiner Vergangenheit ganz individuell in dieses Heute herein bringt.

Ob wir nun von „Humanistischer oder Positiver Psychologie“8 oder von „Waldorfpädagogik“9 und „Wesensgliederdiagnostik“ (vgl. Anthroposophische Medizin: Parameter der Wesensgliederdiagnostik) sprechen, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist die innere Haltung, die hinter den jeweiligen Begriffen und Konzepten steht und die unser Handeln prägt:

  • ob man das Kind wirklich ernst nimmt in allem, was es ausmacht;
  • ob man ihm tatsächlich in seiner Entwicklung helfen will;
  • ob man bei allem seine Zukunft im Bewusstsein hat.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003

  1. Roswitha v. dem Borne, Einfach fallen lassen. Der Rausch nach Grenzerfahrungen, Stuttgart 2001.
  2. Roswitha v. dem Borne, a.a.O.
  3. Peter Handke, Kindergeschichte, Frankfurt/M. 1971.
  4. Lee Garoll & Jan Tober, Die Indigo-Kinder. Eltern aufgepasst... Die Kinder von morgen sind da!, Burgrain 2000; Georg Kühlewind, Sternkinder. Kinder, die uns besondere Aufgaben stellen, 2. Aufl. Stuttgart 2001.
  5. Siehe hierzu Dietrich Bauer, Max Hoffmeister, Hartmut Görg, Gespräche mit Ungeborenen. Kinder kündigen sich an, 4. Aufl. Stuttgart 1994, und Wunderkinder. Schicksal und Chancen Hochbegabter, Frankfurt 1991. In letzterem sind Beispiele bis ins 17., 18. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Nicht nur Mozart, auch Haydn, Schubert, Schumann waren Wunderkinder. Weiterhin wird von hochbegabten Mathematiker-Kindern berichtet, von anderen, die mit wenigen Monaten sprachen und vieles mehr. Manche sind früh gestorben, aus anderen sind große Meister geworden, bei anderen wiederum ist die Genialität der Kinderzeit versiegt.
  6. Goethes Werke, Bd. VIII, Stuttgart 1962.
  7. Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, Prosaschriften, Stuttgart 1956.
  8. Bei der Humanistischen Psychologie handelt es sich um eine psychologische Schule. Ihrem Anspruch nach trägt sie mit dazu bei, dass sich gesunde, sich selbst verwirklichende und schöpferische Persönlichkeiten entfalten können.
    Positive Psychologie ist die Selbstbezeichnung eines vom US-amerikanischen Psychologen Martin Seligman begründeten Forschungsprogramms. Dabei werden normativ positive Gegenstände der Psychologie wie Glück, Optimismus, Geborgenheit, Vertrauen, Verzeihen und Solidarität behandelt, welche laut Seligman in der anfänglich konflikt- und störungsorientierten Psychologie wenig beachtet wurden. Inzwischen benennt der Begriff eine Strömung (möglicherweise eine Schule) innerhalb der Psychologie; sie wird auch als „neues Paradigma“ bezeichnet.(Wikipedia).
  9. Die Waldorfpädagogik ist eine von Rudolf Steiner (1861–1925) begründete Pädagogik auf der Grundlage der ebenfalls von ihm entwickelten Menschenkunde Anthroposophie. Sie wird der Reformpädagogik zugerechnet. (wikipedia).