Menschheitsgeschichte und Kindsein

Menschen haben nicht nur ihre persönliche Biographie, sie prägen mit ihrem So-Sein, ihren Anlagen und Möglichkeiten auch die zukünftige Menschheitsentwicklung. In den ersten drei Jahren der Entwicklung des Kindes steht das Allgemein-Menschliche sogar im Vordergrund: Im ersten Jahr wird der aufrechte Gang erworben, im zweiten die Muttersprache erlernt und im dritten Jahr tritt mit dem Ich-Sagen das eigenständige Denken erstmals auf. Diese Entwicklung vollzieht sich bei allen Völkern und in allen Kulturen auf ähnliche Weise. Erst ab dem 3. Lebensjahr gewinnt die Anpassung an die jeweiligen lokalen und nationalen Gegebenheiten an Bedeutung.

Kindsein bedeutet in gewisser Weise auch, die Stammesgeschichte zu wiederholen, die von den Stufen eines magischen, mythologisch-bildhaften Bewusstseins und archaischen Gedächtnisformen bis hin zum Gegenstandsbewusstsein und dem abstrakten Gedächtnis der Gegenwartsmenschen reicht. Wer Kinder beobachtet, sieht, dass sie diese Entwicklungsstufen durchlaufen. Man denke z.B. an das Bewusstsein der Indianer, die den „Großen Geist“ in der Natur und in ihren magischen Handlungen erlebten. Kleine Kinder erleben noch das elementar Spirituelle in Bach, Fels, Baum und Stein. Deshalb haben sie auch Angst, über eine dunkle, dämmrige Wiese zu gehen – einfach weil sie noch viel mehr als die meisten Erwachsenen sehen, z.B. auch Elementarwesen.

Sie befinden sich in einem anderen Bewusstseinszustand und denken noch nicht abstrakt, denn dazu ist das Gehirn noch nicht reif. Sie sehen ihre Gedanken noch wesenhaft, anstatt sie abstrakt zu reflektieren – auch wenn sie für diese Wahrnehmungen keine Worte haben, weil sie diese von den Erwachsenen, deren Bewusstsein meist auf das Gegenständliche reduziert ist, nicht lernen konnten. Eines Tages vergessen sie diese Wahrnehmungen – und dann ist der Zauber der Kindheit vorbei...

Eigenaktivität als optimale Rundum-Förderung

So durchlebt jedes Kind frühere, auch religiös-magische, Entwicklungsstadien und kommt allmählich im Hier und Heute an – das eine Kind früher, ein anderes später. Gerade Kinder, die schnell ins Hier und Heute hereinstreben und eine Umwelt haben, die das fördert, brauchen eine Erziehung, die ihnen die Reifung ihrer Gesamtpersönlichkeit aus dem Gang der Menschheitsentwicklung heraus ermöglicht, indem sie z.B. Märchen und Singspiele, Rituale und sinnvolle Gewohnheiten erleben dürfen.

Betrachtet man die kindliche Entwicklung unter diesem Aspekt, leuchtet ein, dass insbesondere in den ersten neun Lebensjahren, in denen die Gehirnentwicklung – und damit die Ausreifung komplexen Strukturen – im Vordergrund steht, adäquate Anregungen nötig sind. Jede Form von Eigenaktivität – körperlich wie auch in der Phantasie – fördert diesen Reifungsprozess am intensivsten. Alles, was an Sprach-, Beziehungs- und Gefühlskultur gepflegt wird, entwickelt die sogenannte emotionale Intelligenz, ohne die sich auch die abstrakten Intelligenz- und Gedächtnisformen nicht voll entfalten können.

Einfluss des Denkens auf Haltung und Bewegung

Die so notwendige Eigenständigkeit im Denken und Beurteilen wird gefördert, indem man Kindern nicht nur Informationen gibt und quasi tolle Filme vor ihrem inneren Auge ablaufen lässt, sondern ihnen gute Fragen stellt, an denen sie selbst den Erkenntniserwerb üben können.

Um die Gehirnreifung und die Entwicklung im Allgemeinen voranzubringen, muss ein Kind alle seine Sinne schulen, bis es sich auch feinmotorisch betätigen kann und eine gute gesamtmotorische Koordination aufweist. Was man oft nicht bedenkt ist, dass Körperhaltung und Bewegungsspiel bzw. das Gangbild nicht nur von körperlicher Übung, sondern insbesondere vom Denken abhängen: Ein aufrechter Gang ist oft einem klaren, beweglichen, gut strukturierten Denken geschuldet. Denn letztlich ist das Denken selbst, das den Menschen aufrichtet und zu sich selber bringt. Ich persönlich habe lange gebraucht, bis ich diesen Zusammenhang bemerkt habe.

Physisch richtet sich der Mensch schon im ersten Lebensjahr auf. Wenn man jedoch keine gedankengetragene Aufrichtigkeit entwickelt und sich nicht eigenständig auf Wahrheitssuche begibt, wird man sich innerlich kaum aufrechten können – und dann verkümmert auch die Körperhaltung. Die Art, wie jemand geht, sich auf andere zu- und von ihnen wegbewegt, spiegelt seine Art zu denken wider.

Besonders eindrücklich konnte ich das erkennen, als ich im Rahmen meiner schulärztlichen Tätigkeit beobachtete, wie Jugendliche im 10. Schuljahr alle Viere von sich strecken, wenn sie sitzen, wie sie lustlos rumrutschen und den Lehrer gelangweilt anblinzeln, wenn sie der Stoff nicht interessiert.

Sobald sie aber etwas zu interessieren beginnt und sie anfangen, selbst zu denken, werden die Beine angezogen, der Oberkörper strafft sich, richtet sich auf, und der Blick wird frei und zielgerichtet bzw. – beim Denken selbst – wie nach innen gewandt. Mancher Schüler, dem im Unterricht „ein Licht aufgegangen“ war und der dadurch ein Erfolgserlebnis hatte, geht nachher ganz anders über den Schulhof: aufrecht, motiviert, gestrafft, mit starkem Rückgrat.

Selbst denken zu lernen, selbständig zu werden im Denken, ist demnach die wesentlichste Quelle geistiger, seelischer und körperlicher Gesundheit.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003