Resilienz trotz Risiko

Im französischen und englischen Sprachraum bürgerte sich im der Salutogenese der Begriff Resilienz (engl. resilience = Spannkraft, Elastizität) ein. Gemeint ist damit eine stabile und gesunde Persönlichkeits- und Verhaltensentwicklung, trotz ungünstiger kindlicher Erfahrungen und Belastungen.

Langfristige Beobachtungen von Kindern, die schon früh in Armut und chaotischen Familienverhältnissen leben mussten, zeigen, dass der Lebensweg der meisten von ihnen auch entsprechend chaotisch verlief. Einige kamen jedoch erstaunlicherweise ausgesprochen gut über die Runden. Diese Kinder waren trotz ihrer schwierigen Familienverhältnisse „intelligent und selbständig [...] im sozialen Umgang fröhlich, zugewandt und gelöst und bei der Meisterung praktischer Lebensprobleme sachlich, nüchtern und einfallsreich.“1

Offensichtlich standen diesen Kindern, die als „verletzlich, aber unbesiegbar“ bezeichnet wurden, bereits frühzeitig innere Ressourcen zur Verfügung. Zugleich hatten sie jedoch auch das Glück, Zugang zu äußeren Ressourcen zu erhalten: Sie hatten Freunde, die prägend waren für ihr Leben, fanden Materialien, entdeckten Landschaften und soziale Freiräume, über die sie ihre Talente spielerisch entfalten konnten.

„Mir fielen bei der Beschreibung dieser Kinder Pippi Langstrumpf und Huckleberry Finn ein“, so Ursula Brucks im Handbuch der Salutogenese. „Die beiden Literaturgestalten Pippi Langstrumpf und Huckleberry Finn verkörpern beispielhaft diejenigen Anteile unseres Fühlens und Handelns, die zum Verständnis von Kreativität und Gesundheit wichtig, jedoch in der medizinischen Wissenschaft bislang weitgehend ausgeklammert sind [...] Unser Wissensverständnis schließt [...] das Spontane, Kreative, Unplanbare und Unbeherrschbare aus. Dies ist von Nachteil für die Medizin wie für jede angewandte Wissenschaft.“2

Was Kinder stärkt

„Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz“3 ist der Titel einer weiteren Publikation, in der ebenfalls zahlreiche Studien zur Lebensqualität von Kindern vorgestellt werden, aus denen abgelesen werden kann, wodurch Gesundheit entsteht und für ein ganzes Leben veranlagt wird. Auch sie sagen aus, dass Kinder trotz zahlreicher Risikofaktoren, denen sie ausgesetzt waren, dennoch über Widerstandskräfte verfügen können.

Mit Risikofaktoren sind Umstände wie Alkoholismus in der Familie, sexueller Missbrauch, Gewalt, Vernachlässigung, Kälte, schlechte Ernährung, unhygienische Verhältnisse, aber auch charakterliche Eigenschaften von Erziehenden wie Verlogenheit und Respektlosigkeit gemeint. Das sind alles krankmachende Faktoren.

Können Kinder überhaupt Widerstandskraft gegen ihr Milieu entwickeln?

Auch in Bezug darauf finden sich in dem genannten Buch die erstaunlichsten Untersuchungsergebnisse. So wurde in Hawai über vierzig Jahre eine Langzeitstudie gemacht, bei der die Ärmsten der Armen untersucht wurden, also die, die jeder für Opfern hielt, aus denen nur wieder neue Täter werden können.

Umso erstaunter war man, dass sich weit mehr von ihnen als erwartet zu ganz normalen, gesunden Erwachsenen entwickelten, die voll im Berufsleben standen – die Hälfte davon, ohne jemals auffällig oder kriminell geworden zu sein! Die andere Hälfte war vorübergehend verhaltensauffällig oder in der Jugend kriminell und konnte diese Schwächen jedoch mit den Jahren überwinden. Aufgrund der zahlreichen vorliegenden Daten konnte man systematisch untersuchen, woran es lag, dass diese Kinder vor allem auch seelisch widerstandsfähig waren. Es stellte sich heraus, dass die „menschliche Beziehung“ ein ausschlaggebender Faktor war, die in ihrer salutogenetischen Bedeutung stärker wirkte als Vererbung und Milieu.

Merkmale einer guten Beziehung

Dass Vererbung und Milieu den Charakter weitestgehend beeinflussen, ist ja seit Aristoteles bekannt und immer wieder neu diskutiert und bewertet worden. Aber dass es etwas gibt, das stärker ist als Vererbung und Milieu – eine gute menschliche Beziehung –wurde erst durch die Verhaltensforschung der letzten dreißig Jahre deutlich und wird jetzt durch die Resilienzforschung belegt.

Eine gute Beziehung zeichnet sich durch drei entscheidende Wesensmerkmale aus:

  • Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit,
  • Liebe,
  • Respekt vor der Autonomie und Eigenwürde des anderen - auch wenn er im Kleinkindstadium oder im Zustand großer Hilfsbedürftigkeit ist.

Erlebt ein Kind solch eine gute Beziehung – und sei es nur zu einem einzigen Menschen bzw. nur in einer bestimmten Zeit seiner Kindheit – kann es sich trotz allem seelisch gesund entwickeln, selbst wenn die Lebensbedingungen sonst sehr ungünstig sind, es abends geprügelt wird und es auch tagsüber nicht gut betreut wird. Wenn ein Kind zu einem Menschen eine tiefe innere Beziehung hat, braucht seine seelische Gesundheit nicht in Frage gestellt zu werden. Im Gegenteil, ein solches Kind kann sogar besonders sensibel und mitleidsfähig werden.

Das Buch „Plus fort que la haine“, das in Frankreich großes Aufsehen erregte, ist dafür ein eindrückliches Beispiel. „Stärker als der Hass“ schildert die Erfahrung von Liebe und Mitmenschlichkeit, die ein extrem traumatisiertes und vernachlässigtes Kind im Alter von drei Jahren während dreier kostbarer Monate in einer Pflegefamilie erfuhr. Diese Erfahrung prägte es für das ganze weitere Leben und ermöglichte die Identifikation mit dem Guten und einem liebevollen Menschsein.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003

  1. Brucks, Salutogenese – der nächstmögliche Schritt in der Entwicklung medizinischen Denkens?, in: W. Schüffel et al. (Hrsg.), Handbuch der Salutogenese. Konzept und Praxis, Wiesbaden 1998, zit. bei Schiffer, a.a.O.
  2. U. Brucks, zit. bei Schiffer, a.a.O.
  3. Günther Opp, Michael Fingerle, Andreas Freitag (Hrsg.), Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz, München 1999.
  4. T. Guenard, Plus fort que la haine, Presse de la renaissance, Paris 1999.