Was Kinder brauchen
Was erwartet ein Kind von seiner Mutter und anderen Bezugspersonen?
Geborgenheit geben vor und nach der Geburt
Ein Kind erwartet von seiner Mutter (vgl. Muttersein: Den Mutterberuf bejahen lernen) vor allem das, was es schon empfangen hat, bevor es geboren wurde und woran es sich gewöhnt hat: Geborgenheit. Was sich während der Schwangerschaft zwischen Mutter und Kind entwickelt hat als Geste des Bergens, Hütens und Ernährens, will nach der Geburt fortgesetzt werden.
Bergen und Ernähren sind während der Schwangerschaft biologische Tatsachen, die an das Organ des Uterus und an die Keimreifung gebunden sind. In diesem Stadium tritt bereits ein grundsätzliches Problem des Menschseins auf: Im Gegensatz zum Tier, das seine biologischen Funktionen mit entsprechenden seelischen Verhaltensweisen hingebungsvoll begleitet, ist dies beim Menschen nicht selbstverständlich der Fall. Es kann eine Kluft bestehen zwischen der leiblichen Fähigkeit zu bergen, und der Möglichkeit, auch seelisch Geborgenheit zu bieten, vor allem, wenn sich die Mutter selbst nicht geborgen fühlt.
Ein gesunder Mensch hat auf der leiblichen Ebene alles, was er braucht: Organe zur Kraftentfaltung, zur Rhythmus-Gebung, zur Ernährung, zur innerkörperlichen Wahrnehmung, zum Ausgleichen, zur Aufrichtung, zur Orientierung zwischen Oben und Unten und Links und Rechts.
Seelisch sind diese „Organe“ bei uns Menschen meist nicht in derselben Weise entwickelt. Oft fehlt der Mut, fehlt für vieles die richtige Orientierung. Auch kann einem seelisch „das Rückgrat gebrochen“ sein, obwohl es physisch ganz in Ordnung ist. Der Leib mit seinen Funktionen ist vollkommen ausgebildet, während im Seelischen alles offen, in Entwicklung ist, im Umbruch: Alles, was leiblich veranlagt ist, muss man sich seelisch, also bewusst, erst erwerben, damit es zu einer eigenen seelischen oder geistigen Eigenschaft werden kann.
Voraussetzungen für Geborgenheit
Was sind also die Voraussetzungen für Geborgenheit?
Was braucht ein Kind, damit es sich geborgen fühlen kann?
Auf leiblicher Ebene: Wärme, Nahrung, Kleidung, Platz zum Wohnen, regelmäßige Lebensgestaltung.
Auf seelischer Ebene: Interesse und liebevolle Zuwendung (vgl. Konfliktfähigkeit: Selbstsicherheit und Konfliktfähigkeit ).
Auf geistiger Ebene: sichere Orientierung, Fähigkeit, den Sinn der Dinge zu erleben, Verstehen- und Einordnen-Können von Schwierigkeiten.
Wie können diese Eigenschaften erworben werden?
Die Sorge um das Kind und seine Erziehung lassen sich nicht von der eigenen Entwicklung trennen. Nicht nur das Kind hat es nötig, dass wir nach den optimalen Entwicklungsbedingungen fragen, sondern jeder Mensch muss sich diese Frage für jedes Lebensalter neu stellen. Seelisch und geistig sind wir genauso wenig „ausgewachsen“, wie ein Kind in physischer Hinsicht ausgewachsen ist. Seelisch und geistig sind wir oft in einer ähnlichen Lage wie ein Kind, das gehen und sprechen lernt: Wir stolpern, verlieren den Halt, benutzen die falschen Worte.
Woher nehmen kleine Kinder ihre Energie, unverdrossen und unermüdlich das Aufrichten und Sprechen zu üben und sich durch keine Misserfolge beirren zu lassen?
In Beantwortung dieser Frage stoßen wir auf eine entscheidende Tatsache: Das Kind beginnt erst bewusst „ich“ zu sich zu sagen, wenn diese wesentlichen Lernschritte absolviert sind. Darin ist auch das Geheimnis seines Erfolges begründet. Denn erst ab dem Augenblick, ab dem die Lernprozesse von Selbstbewusstsein begleitet werden, hat man die Möglichkeit – und damit die Freiheit –, sich die Frage zu stellen, ob man das oder jenes überhaupt lernen kann oder will. Ein älteres Kind oder ein Erwachsener kann nach zwei Misserfolgen entscheiden: „Das kann ich nicht erlernen, ich gebe auf. Das ist mir jetzt schon zweimal misslungen, davon habe ich genug!“ Ein kleines Kind kann niemals so reagieren, weil es die Fähigkeit zur Selbstkritik noch gar nicht besitzt und stattdessen unverdrossen und hingebungsvoll seinem Nachahmungstrieb folgt und weiter übt.
Vom Kind lernen
In dieser Hinsicht kann der Erwachsene vom Kind lernen. Die freudige Lernbereitschaft kleiner Kinder kann uns darauf aufmerksam machen, in welchem Ausmaß Unzufriedenheit, Unlust und Destruktivität davon herrühren, dass wir unsere Lernbereitschaft durch zu kritische Selbst- und Weltbetrachtung lähmen und stören. Sich das bewusst zu machen, kann für jede Mutter eine große Hilfe sein. Sie kann sich täglich beim Beobachten ihres Kindes sagen: Das Vertrauen, mit dem du auf mich zugehst, deine Bereitschaft, mich und meine Umwelt als sinnvoll und nachahmenswürdig anzunehmen, deine Daseinsfreude – all das will ich dir wiedergeben, indem ich an meinem Vertrauen in die Welt und in mich selber arbeite, indem ich mir Ziele für meine Entwicklung setze und lerne, ein zufriedener und daseinsfroher Mensch zu werden (vgl. Freude: Die Fähigkeit sich zu freuen). Eine Mutter, die das anstrebt, kann ihrem Kind geben, was es braucht: geistige Geborgenheit durch Zuversicht und Vertrauen, seelische Geborgenheit durch Liebe und leibliche Geborgenheit durch Wärme, Sicherheit und Stabilität.
Der Erwerb dieser Qualitäten ist nicht primär davon abhängig, ob man haupt- oder nebenberuflich Mutter ist und ob ein Vater in der Familie lebt oder nicht. Diese Eigenschaften kann jeder Mensch sich erarbeiten und sie dann anderen Menschen, insbesondere Kindern, schenken.
Vgl. Kapitel „Die alleinerziehende Mutter“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart