Die Fähigkeit der Integration

Inwiefern ist die Fähigkeit der Integration heute notwendig im Kontext von Kirche?

Integration von Göttlichem ins Menschliche

Die Besinnung auf den Leib-Seele-Zusammenhang kann uns das Wort vom „Tempel des Leibes“ (vgl. Christus heute: Jesus-Christus und der Tempel des Leibes) verständlich machen und uns ahnen lassen, welch weitreichende Bedeutung es hat, dass das Schöpfungsprinzip des Anfangs, der Logos, sich einmal im Lauf der Evolution in einen menschlichen Leib und in ein menschliches Seelen- und Geistesleben hereinbegeben und sich dort seiner selbst auf menschliche Weise bewusst geworden ist: Auf diesem Wege hat Christus das Welt- und das Menschenbewusstsein miteinander verbunden. Der menschliche Leib ist seither zugleich

  • Abbild der Gottheit,
  • Ort der Integration der Weltgesetze,
  • Tempel dieser Weltgesetze und des sich darin abbildenden Gottesbewusstseins.

Integrieren, um zu heilen

Ein solcher Tempelbegriff legt nahe, den Integrationsgedanken ganz in den Vordergrund zu rücken. Integration bedeutet in der Mathematik das harmonische Zusammenfügen aller Bezugspunkte zu einer bestimmten Kurve oder Figur. Auf die Religion übertragen ist es eine Fähigkeit des Menschen, der sich seines Zusammenhanges mit der Welt bewusst geworden ist: Er wird sich als „Integrator“ betätigen, wo immer etwas beziehungslos oder unvereinbar aufeinanderprallt.

Der Körper ist im Zuge von Aufbau-, Regenerations- und Heilungsvorgängen ständig am Integrieren. Das Gleiche sollen wir mit Hilfe des Denkens bewusst auch tun, das ist unsere Aufgabe. Das Christentum will sich heilend im Menschheits- und Weltganzen betätigen (vgl. Bewusstsein(sseele): Entwicklung von Selbst- und Weltbewusstsein). Nichts anderes bedeutet Integration.

Es gibt immer mehr Menschen, die sich der Kriege, der Not, des Elends und der Dramen in weiten Teilen der Erde bewusst sind und die fortwährend mitleiden. Wird dieses Mitleiden von dem Bewusstsein begleitet, dass Gedanken und Gefühle auf der geistigen Ebene ebenso real sind wie sinnlich Sichtbares auf dem physischen Plan, so kann es zur Überwindung der leidbringenden Zustände beitragen (vgl. Bewusstsein(sseele): Bewusster Umgang mit Not und Zerstörung). Denn über unser Bewusstsein können wir Beziehung zu den Betroffenen aufnehmen, uns mit ihnen verbinden und ihnen helfende Kräfte in Form von guten Gedanken und Gefühlen zukommen lassen. Indem wir in einem weiteren Schritt die Ursachen zu verstehen beginnen, arbeiten wir direkt an einem kulturellen Wandel mit.

Warum wird in unserem so stark materialistischen Zeitalter ein Drittel der Menschheit durch Elend und Not ständig an die Schwelle zur geistigen Welt geführt?

In jedem Menschenleben halten sich durch die verschiedenen Verkörperungen hindurch Schmerz und Freude, Elend und Glück die Waage. Das Gleiche trifft auch auf die Menschheit als Ganzes zu: Was der Materialismus an Bequemlichkeit und Abgestumpftheit dem Geist gegenüber mit sich bringt, fordert geradezu Wachheit und Schmerz an einer anderen Stelle heraus.

Einzelerscheinungen im Zusammenhang mit dem Ganzen sehen

Die Fähigkeit der Integration zu entwickeln bedeutet, menschheitlich denken zu lernen, Einzelerscheinungen wieder im Zusammenhang mit dem Ganzen zu sehen. Victor E. Frankl vermochte sogar im Konzentrationslager sein Leben so zu ordnen, dass er unter größtmöglichem Zwang innere Freiheit erleben konnte.1 (Vgl. Macht: „Die letzte Freiheit des Menschen“ und die Macht-/Ohnmacht-Frage)

Die Botschaft seines berühmten Buches und der von ihm entwickelten Psychotherapie ist, dass es letztlich eine Frage der Einstellung ist, wie wir leben und wie wir die Ereignisse, die uns begegnen, annehmen können. Frankl hat sich in innerer Freiheit zu der Einsicht hindurchgerungen, dass er durch seine furchtbaren Erfahrungen im Konzentrationslager persönlich etwas über sich und sein Schicksal und die Menschheit lernte, was für ihn nur dort und nur so in dieser grundlegenden Weise erfahrbar war.

So wie der Mensch als Einzelner mit der richtigen Einstellung zu seinem Leben und Schicksal ringt, so hat Christus dies in Bezug auf die ganze Schöpfung getan. In diesem Sinne nimmt er alles auf, was Menschen entwickeln, was von Menschen erarbeitet wird im Fortgang dieser Schöpfung (vgl. Christus heute: Christusbewusstsein entwickeln lernen). Er begleitet diese sich immer weiter fortsetzende neue Schöpfung seinen eigenen Worten nach bis an ihr Ende. Damit ist er nicht nur der Erste, sondern auch der Letzte, nicht nur das Alpha, sondern auch das Omega.2

Vgl. „Integration - Aufgabe der Kirche heute“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997

  1. Victor E. Frankl, Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychiater erlebt das Konzentrationslager, 7. Aufl. München 1995.
  2. Neues Testament, Offenbarung 22, 13.