Integration als Aufgabe der Kirche heute

Was ist „die Kirche"?

Im Griechischen gibt es zwei Worte für den Begriff „Kirche“:

  • Kyriakón – das Haus des Herrn
  • und Ekklesia – die Volksversammlung, die Gemeindeversammlung, die christliche Gemeinde.

Entsprechend hat sich auch über die Jahrhunderte die Auslegung des Wortes Kirche entwickelt. So heißt es in der confessio augustana 1: „Die Kirche aber ist die Versammlung der Heiligen, in der das Evangelium rein gelehrt wird und die Sakramente richtig verwaltet werden (est autem ecclesia concregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte ad ministrantur sacramenta)."

Für Luther ist Ecclesia die „Gemeinschaft der Gläubigen, die Gott zum ewigen Leben bestimmt hat (corpus fidelium quos deus ad vitam aeternam praedestinavit)".

Bei Kant finden wir den philosophischen Kirchenbegriff als den eines „ethisch gemeinen Wesens", durch das „die völlig unzulänglichen Kräfte der Einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden". Dies gipfelt in seiner Idee der „unsichtbaren Kirche", von der er sagt, dass ihre Verfassung „am besten mit der einer Hausgenossenschaft unter einem gemeinschaftlichen, ob zwar unsichtbaren, moralischen Vater steht".

Dann wiederum wird Kirche aufgefasst als Haus bzw. als Leib des Herrn, wie dies zuletzt 1943 in der päpstlichen Enzyklika „Mystici Corporis" sehr eingehend beschrieben worden ist.

Gegenwärtig ist man im Rahmen des ökumenischen Impulses der Kirchen bestrebt, die unterschiedlichen christlichen Kirchen und Bekenntnisse als eins zu sehen, wenn es darum geht, Christus mit „seiner Kirche" in Verbindung zu denken.

Würden wir heute eine Umfrage machen, was Menschen unter einer Kirche verstehen, würde der eine mehr das der Versammlung dienende Gebäude im Auge haben und der andere mehr die sich dort versammelnde Menschengemeinschaft.

Kirchenaustritte und Neugründungen

Die vielen Kirchenaustritte in unserem Jahrhundert hängen sicher auch damit zusammen, dass die Kirche nicht mehr als eine persönliche Realität empfunden wird. Die Nähe oder gar Anwesenheit des Christus zu erleben bzw. Menschen zu treffen, die ebenso den Christus suchen, sind Erfahrungen, die vielen Menschen fremd geworden sind.

Man hört aber auch von Menschen, die durchaus religiös sind und dennoch aus der Kirche austraten, dass ihnen die Kirche ein viel zu eng gesteckter Rahmen gewesen wäre. Sie würden mit dem Christentum eine weltumspannende, tolerante und ganz und gar nicht sektiererische Weltanschauung in Verbindung bringen. Sie können sich mit der Kirche nicht mehr ausreichend identifizieren, um dort mehr als ein stilles Mitglied sein zu wollen. Sie erleben ihre Fragen an das moderne Leben und die schwierigen Zeitverhältnisse von kirchlicher Seite nicht befriedigend aufgegriffen und beleuchtet.

Dennoch sind auch im 20. Jahrhundert neue Glaubensgemeinschaften und Kirchen entstanden. So auch die Christengemeinschaft, die 1922 mit der Hilfe Rudolf Steiners begründet wurde. Man kann nicht sagen, dass sie sich aus der evangelischen oder katholischen Kirche „abgespalten" habe. Denn der Gründerkreis der Christengemeinschaft umfasste Mitglieder aus beiden Richtungen. Heute hat die Christengemeinschaft eigene Kirchenbauten, nicht nur in Deutschland und Europa, sondern auch in Nord- und Südamerika, in Australien und Neuseeland, in Asien und in Südafrika.

Sie ist im Vergleich mit der evangelischen und katholischen Kirche und deren Nebenströmungen eine sehr kleine Gemeinschaft. Doch selbst die größte Kirche, die katholische, zählt nur etwa 840 bis 890 Millionen Mitglieder und macht damit nur etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung aus.

Die Tatsache, dass die Menschheit so vielen verschiedenen Religionen und Glaubensbekenntnissen angehört, gehört zu den großen Rätseln der menschlichen Entwicklung. So faszinierend der Gedanke wäre, dass es nur eine Religion gäbe, so problematisch wäre das doch auch. Denn gerade die Verschiedenheit der Religionsbekenntnisse und -gewohnheiten hat etwas ungeheuer Befreiendes und hilft dem Einzelnen, die Frage nach der Religion als eine existenzielle persönliche Herausforderung zu begreifen.

Unterschiedliches Bemühen, ein Ideal zu verwirklichen

Nimmt man das Wort Kirche in seiner doppelten Bedeutung als Wohnung bzw. Haus Gottes einerseits und als weltweite Menschengemeinschaft, die ihren Zusammenhang mit der göttlich-geistigen Welt sucht, andererseits, findet man sich jenseits aller besonderen Religionsbekenntnisse wieder und steht einer Idee, ja einem großen Ideal gegenüber. Dann lassen sich all die unterschiedlichen religiösen Bewegungen und Kirchengründungen als Bestrebung begreifen, dieses Ideal auf die eine oder andere Weise in dieser oder jener Zeit, mit diesen oder jenen Menschen bzw. Möglichkeiten, auf dieser oder jener Tradition aufbauend mehr oder weniger weitreichend zu verwirklichen.

Dieses Ideal kann eine große Hilfe sein, umfassende Toleranz nicht nur im Hinblick auf die unterschiedlichen christlichen Kirchen, sondern auf die Religionssysteme überhaupt zu entwickeln. Das Schöne daran ist, dass das keine Nivellierung bedeuten würde. Vertreter aller großen Weltreligionen haben gezeigt, dass beides vereinbar ist: das Pflegen der eigenen religiösen Überzeugung und ein tiefes Verstehen dessen, was allen religiösen Bemühungen gemeinsam ist. Dieser Haltung gebietet von selbst, die anderen Richtungen zu tolerieren.

So mag eine Kirche wie die Christengemeinschaft im Vergleich zu anderen äußerlich gesehen sehr klein erscheinen. In Wahrheit entspricht ihre Größe dem Ausmaß an Toleranz und Menschenverständnis ihrer Mitglieder. Auch wenn für die Pflege von spezifischen kultischen Handlungen und Glaubensinhalten bestimmte Formen und Verbindlichkeiten notwendig sind, so kann doch die Haltung, mit der der Kultus (vgl. Religion: Die Bedeutung kultischen Geschehens) und die Sakramente gefeiert werden, etwas ganz Offenes, Freies und Weltumspannendes an sich haben. Ein die Menschheit umspannendes Religionsverständnis ist heute die Voraussetzung dafür, dass man sich wieder engagiert einer bestimmten Kirche und ihren Aufgaben im Menschheitsganzen zuzuwenden gewillt ist.

Bau an der unsichtbaren Kirche statt Machtentfaltung

Viele Menschen besitzen heute erstaunliche Integrationsfähigkeiten im Äußeren. Die Fähigkeit, zwischen zerstrittenen Parteien zu vermitteln, ist eine der gesuchtesten heutzutage. Sie bringt aber eine große Gefahr mit sich: die Versuchung, aufgrund der Überschau, die durch die Integrationsfähigkeit entsteht, Macht ausüben zu wollen. Ein Mensch, dem primär die äußere Größe einer Kirche wichtig ist, sieht an ihrer eigentlichen Aufgabe bzw. Sinnhaftigkeit vorbei. Gelingt es den Kirchen, diese Versuchung klar im Auge zu behalten und der Machtentfaltung im Äußeren zu widerstehen und stattdessen die Integration des Ganzen im Inneren zu vollziehen, durch innere Anteilnahme und Bewusstseinsarbeit, so werden sie ihrer Aufgabe gerecht. Einzig die innere Größe einer Kirche ist wichtig, die sich als integrative Kraft äußert, durch die an der unsichtbaren Kirche gebaut wird, zu der die ganze Schöpfung gehört. Dann bekommt auch das Feiern der Sakramente eine neue Strahlkraft und Dimension: Das einzelne Kind, das die Taufe empfängt, oder das Paar, das sich trauen lässt, werden jetzt als Angehörige der Menschheit erlebt, die durch die sakrale Handlung in ihrer Entwicklung gestärkt wird.

So können heute gerade kleine Kirchen durch die Art, wie sie das Gemeindeleben fördern, Vorbilder sein und, anstatt äußeres Wachstum voranzutreiben, die integrative Kraft stärken und dadurch inneres Wachstum fördern. Dadurch kann unter unterschiedlichen Kirchgemeinden ein gemeinsames Bewusstsein der Zusammengehörigkeit entstehen: Jeder dient an seinem Platz im unsichtbaren Tempel der Menschheit und erfüllt seine Aufgabe in der großen Gemeinde der Menschheit. So können sich Kirchen heute als „die Ersten“2, als Vorreiter, empfinden, die ihrer Aufgabe so lange treu bleiben, bis möglichst alle Menschen den Anschluss an das Menschheitsziel gefunden haben. Damit werden sie auch „die Letzten" sein, die nicht ruhen, bis alle anderen vor ihnen ans Ziel gelangt sind.

Vgl. „Integration - Aufgabe der Kirche heute“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997**

  1. Die im Folgenden wiedergegebenen Zitate entstammen dem Historischen Wörterbuch der Philosophie (HG Karlfried Gründer; Joachim Ritter, Darmstadt 1971-2007), Bd. 4, Stichwort Kirche.
  2. Gemäß dem Bibelwort: „Die Ersten werden die Letzten sein“, Matthäus 20,16.