Selbstbewusstsein entwickeln als Gemeinde

Wie kann eine Gemeinde Selbstbewusstsein entwickeln?

Was ist ein Gemeinde-Selbst?

Leibunabhängiges Selbstbewusstsein erwerben

Das gewöhnliche Selbstbewusstsein des Menschen ist an die Intaktheit des physischen Leibes gebunden, und zwar so sehr, dass es rasch zusammenbrechen kann, wenn der Leib erkrankt oder seine Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wird und der Betreffende sich überflüssig vorkommt. Daher ist es nötig, an einem dauerhaften, leibunabhängigen Selbstbewusstsein zu arbeiten (vgl. Selbstbewusstsein: Selbstbewusstsein über den Tod hinaus). Das kommt jedoch dem gleich, was man zu allen Zeiten die „zweite Geburt“ genannt hat. Im Gespräch mit Nikodemus1 wird auch im Evangelium davon gesprochen. Die Möglichkeit zu einer solchen zweiten Geburt trägt jeder Mensch in sich.

Goethe beschreibt in seinem Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie, wie die Schlange das Gold in sich aufnimmt und dann zu leuchten beginnt: „… zur größten Freude bemerkte sie, dass sie durchsichtig und leuchtend geworden war. Lange hatte man ihr schon versichert, dass diese Erscheinung möglich sei (…)."2 Diese Worte beschreiben den entscheidenden Schritt vom bloßen Wissen, dass etwas möglich ist, zur Erfahrung, wie es wirklich ist.

Selbstbewusstsein durch Denken

So ist es für die zweite Geburt entscheidend, eine persönliche Beziehung zur Gedankensphäre – zum Gold der Schlange – zu bekommen (vgl. Biographiearbeit: Die zweite Geburt in der Biografie) und zu erleben, wie man sich durch Gedanken verwandeln und ein so unzerstörbares Selbstbewusstsein entwickeln kann, wie Gedanken selbst unzerstörbar sind (vgl. Identität und Ich: Identifikation und Schicksal).

Der Geburtsschmerz, der dieser Geburt „im Geist" vorangeht, ist die Ohnmacht, durch die man erkennt, dass die Gesundheit des Leibes oder eigenes Wissen und eigene Fähigkeiten nicht mehr ausreichen, das Selbstbewusstsein aufrecht zu erhalten. Diese Ohnmacht ist der Anfang des neuen Selbstbewusstseins. Denn ich selbst muss zu mir „Ja“ sagen lernen, zu dem, was ich in mir trage – ganz unabhängig davon, was die Welt von mir hält und was ich „kann".

Fichte hat dies in seiner Wissenschaftslehre mit den Worten ausgedrückt: „Das Ich setzt sich selbst". So hängt es von einem selbst ab, mit welchen Zielen man sich identifizieren möchte, um erst zu werden, was man vorher glaubte zu sein: ein Mensch. Der Gedanke von Wesen und Bestimmung des eigenen Ich und die Werte, mit denen sich dieses Ich identifiziert und die es sich zu eigen macht, haben geistigen Bestand (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit). Sie sind ewig und unzerstörbar und können auch den Tod überdauern. Sie tragen den Menschen – bildlich gesprochen – auf geistigen Flügeln über den Strom zwischen der irdischen und der geistigen Welt.

Gemeinsame Ziele verständlich formulieren

Dieser Prozess gilt auch für eine Gemeinschaft von Menschen bzw. für eine Gemeinde. Gelingt es, innerhalb der Gemeinde Aufgaben und Ziele so zu formulieren, dass möglichst viele diese Aufgaben und Ziele verstehen und sich auch für ihr Leben zu eigen machen können, beginnt die Gemeinde, ein gesundes höheres Selbstbewusstsein zu entwickeln. Dann leuchtet durch die gemeinsam erkannten Aufgaben und Ziele das höhere Selbst dieser Gemeinde in Form des gefassten Ideals und der erkannten Zielvorstellung auf und wirkt sich auf jeden Einzelnen aus.

Es bewirkt, dass die Menschen mehr Freude aneinander haben, mehr miteinander anzufangen wissen, wenn sie sich innerhalb der Gemeinde begegnen, und sie sich kräftiger und lebensfähiger fühlen. Dadurch wird der Einzelne in seiner Entwicklung zusätzlich gefördert – über das hinaus, was er allein an sich oder aus seinem sonstigen Lebenskreis heraus zu tun in der Lage wäre.

Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997

  1. Neues Testament, Johannes 3.
  2. Johann Wolfgang von Goethe, Das Märchen, 12. Absatz. Das Märchen ist die letzte Erzählung aus Goethes Novellenzyklus ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter‹ von 1795, zuerst erscheinen in der von Schiller hrsg. Zeitschrift Die Horen.