Abwägen im Interessenskonflikt

Wie kann man unterschiedliche Interessen „unter einen Hut kriegen“?

Welche Kriterien sind dabei hilfreich?

Nachdem man die Zusammenhänge erkannt hat und die verschiedenen Problemfelder abgesteckt wurden, kommt als nächster wichtiger Schritt das Ausloten der verschiedenen Interessen, die miteinander in Konflikt geraten sind (vgl. Wille(nsschulung): Sieben Wege zur Effektivität).

Das sei anhand eines Beispiels aus dem familiären Bereich demonstriert: Ein Ehepaar ist geschieden, man hat sich relativ gut geeinigt, einmal im Monat ist das Kind für ein Wochenende beim Vater, weitere Besuche finden während des Urlaubs und zu Weihnachten statt. Und nun geraten die verschiedenen Erziehungsstile und Auffassungen, was für das Kind gut oder schlecht ist, miteinander in Konflikt. Ein Problem, unter dem das Kind schon litt, als die Eltern noch beieinander waren, findet auf andere Art jetzt seine Fortsetzung. Das Kind liebt beide Eltern und kommt begeistert vom Vater nach Hause, wagt aber kaum zu erzählen, was es alles im Fernsehen sehen durfte, weil es weiß, dass Mama das nicht mag. Der Interessenkonflikt liegt hier in der Konstellation Vater/Mutter, Kind/Fernsehen. Die Mutter ist dagegen, der Vater dafür – und das Kind?

Ist es dafür, wenn es begeistert erzählt, was es alles sehen durfte?

Man kann fast sicher sein, dass es für beides ist, weil es beide Eltern liebt. Es spürt auch die Sorge und den Ernst der Mutter, warum sie sich ablehnend verhält. In diesem Fall hat sich ihr geschiedener Mann durchgesetzt und lässt das Kind fernsehen, auch wenn er genau weiß, dass die Mutter dagegen ist. Warum?

Möchte er dem Kind nur eine Freude machen?

Weiß er nicht, was er sonst mit dem Kind anfangen soll?

Möchte er sich auf diese Art an seiner Frau rächen oder seine Macht und Selbständigkeit demonstrieren?

Das sind Fragen, die sich die Mutter jetzt neu stellen muss. Es hat keinen Sinn, diesbezügliche Gespräche mit ihrem Mann wieder aufzunehmen. Schon zu oft hatten sie sich seinerzeit deswegen gestritten. Auch muss sie sich eingestehen, dass es ihr Konflikt ist, wohingegen Vater und Kind eigentlich kein Problem damit haben. So muss sie also selbst überlegen, was sie zur Konfliktlösung beitragen kann. Und nun gilt es, die verschiedenen Interessen im Zusammenhang zu sehen und gegeneinander abzuwägen:

Was hat ihr ehemaliger Mann davon, wenn das Kind bei ihm fernsehen darf?

Es liegt auf der Hand, dass es ihm Spaß macht, mit dem Kind auf diese Weise etwas Lustiges oder Interessantes anzuschauen, noch dazu etwas, was es eigentlich „nicht darf“, wodurch der Wert noch gesteigert wird. Auch weiß sie, dass er dem Kind gegenüber während der Sendung immer auch Kommentare abgibt und das eine oder andere erklärt, sodass sich während des Fernsehkonsums auch auf der menschlichen Ebene etwas abspielt. Und das ist im Grunde etwas Gutes.

Könnte sie nicht ihren geschiedenen Mann fragen, ob er dies konsequent machen könnte, dass er, wenn er mit dem Kind fernsieht, hinterher auch noch ein wenig über das Gesehene mit ihm spricht?

Das könnte, vor allem wenn das Kind älter wird, ein annehmbarer Kompromiss sein, indem das nur passive Konsumieren der Sendungen in ein aktiveres Aufnehmen umgewandelt wird. Und das Kind? Es möchte es beiden Eltern recht machen, liebt aber die Fernsehstündchen mit dem Papa, und überdies muss es jetzt auch noch die Scheidung der Eltern verkraften.

Je deutlicher sich die Mutter das alles vor Augen führt, umso deutlicher wird sie nicht nur die Notwendigkeit empfinden, dass dieser Konflikt gelöst werden sollte, sondern sie wird auch eine Möglichkeit dafür sehen. Denn eines wird ihr immer klarer werden: Für das Kind ist es schädlicher, das Hin- und Hergerissen-Sein zwischen den Eltern zu erleben, als einmal im Monat fernzusehen (vgl. Muttersein: Die alleinerziehende Mutter)! Jetzt, wo die Eltern nicht mehr zusammen wohnen, ist der Konsum ohnehin reduziert und nicht mehr ein tägliches Vergnügen. Und es wäre doch furchtbar, wenn ihr Kind ihr nicht erzählen könnte, was es beim Papa sehen und erleben durfte, um sie als Mutter nicht zu ärgern oder zu verletzen. Abgesehen davon ist das Erinnern von Fernsehinhalten gar nicht so einfach – diese Inhalte werden erstaunlich schnell vergessen. Also ist auch das Nacherzählen eine gute Übung für das Gedächtnis.

Nachdem sie all diese Faktoren bedacht und gegeneinander abgewogen hat, entschließt sie sich, den Konfliktpunkt „Fernsehen“ beizulegen und dies auch ihrem Mann mitzuteilen. Für das Kind, das diesen Wandel im Umgang mit dem Problem bei der Mutter miterlebt, ist diese Erfahrung zugleich ein Stück Erziehung zur Konfliktbewältigung.

Zum anderen ist das Ganze aber auch ein Beispiel dafür, dass die Bereitschaft zur Selbsterziehung eine unabdingbare Voraussetzung für jegliche Konfliktbewältigung ist (vgl. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung: Notwendige Selbsterziehung im Seelischen). Das Beispiel kann auch deutlich machen, dass ein guter Teil des Konflikts „im Innern“ bewältigt werden muss. Jeder an einem Konflikt Beteiligte kann seine „Macht“ zur Verschärfung oder zur Linderung der Problematik einsetzen.

Nächtliche Beratung mit den Konfliktpartnern

In den Nächten, in denen scheinbar Pause ist und „nichts geschieht“, passiert doch mehr als wir meinen: Nachts erleben wir die Ereignisse des Tages noch einmal, aber jetzt von der Perspektive der anderen aus gesehen. Rudolf Steiner schildert aus seiner Geistesforschung heraus sehr anschaulich, dass wir nachts „in den Armen unserer Feinde“ liegen und mit ihnen beraten, was getan werden könnte, um Konflikte friedlich beizulegen. Allerdings geschieht diese Beratung nicht vom egozentrischen Alltagsbewusstsein aus, sondern vom altruistischen Engelbewusstsein aus, dem sich auch die Beurteilung der höheren Hierarchien und letztlich „Gottes“ mitteilt.

Das klingt unwahrscheinlich, weil die Auseinandersetzungen am Tage meist unvermindert heftig weitergehen. Manchmal kommt aber auch ganz unverhofft ein guter Einfall, der der Sache eine positive Wendung gibt. Man hat den Schlaf schon seit alters her „den kleinen Bruder des Todes“ genannt. Was nach dem Tode in der Zeit der sogenannten Seelenläuterung geschieht – bildhaft auch „Fegefeuer“ genannt –, während der alles auf Erden seelisch Durchlebte noch einmal durchlaufen wird, nur jetzt so, wie die anderen die Ereignisse mit uns erlebt haben, geschieht jede Nacht im Kleinen – allerdings sind wir uns dessen meist nicht bewusst.

Gehen wir nun mit der Frage in die Nacht, wie wir uns in einer Konfliktsituation konstruktiv verhalten können, und sind wir auch für andere Gesichtspunkte offen, so können wir unter Umständen mit neuen Einsichten aufwachen oder sie während des Tages in Form von „Einfällen“ bekommen, die aus solchen „nächtlichen Beratungen“ stammen. Auf diese Weise können schon hier und jetzt, und nicht erst nach dem Tode, Konflikte aufgearbeitet bzw. beigelegt werden.

Stefan Leber hat die Forschungsergebnisse Rudolf Steiners mit den Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Schlafforschung in Zusammenhang gebracht und so eine sehr erhellende Arbeit zur Dimension des Schlafes und seiner Bedeutung für das soziale Leben geleistet. 1

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 10. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997**

  1. Vgl. Stefan Leber, Der Schlaf und seine Bedeutung. Freies Geistesleben, Stuttgart 1996.