Führungsqualitäten und Konfliktfähigkeit

Erziehung zur Verträglichkeit (vgl. „Erziehung“: „Erziehung und Vorbild“) kann nicht nur darin bestehen, „gutes Benehmen“ zu lernen. Wer z.B. in der Wirtschaft tätig ist, muss auch Fähigkeiten erwerben, die es ihm ermöglichen, in schwierigen Situationen, wenn nötig, die Führung zu übernehmen. In den Führungsetagen großer Unternehmen gibt es ständig neue, offene, schwer lösbare konfliktträchtige Situationen, die mit einem großen Entscheidungsfindungsstress einhergehen. Manager können ihren Beruf nur ausüben, wenn sie selbst zur Konfliktbewältigung erzogen wurden, wenn sie schwierige offene Situationen aushalten und sich dabei so weit unter Kontrolle haben, dass sie noch Optimismus ausstrahlen können. (Nebenbei möchte ich gerne bemerken, dass der Beruf des Topmanagers bisweilen durchaus mit demjenigen einer Hausfrau zu vergleichen ist, die, je nach Größe des Haushalts und Umfang eigener Nebentätigkeiten (vgl. Muttersein: Muttersein als Beruf ) genau das auch lernen und leisten muss.)

Alfred Herrhausen, ehemaliger Chef der Deutschen Bank, der im November 1989 vor seinem Haus von Terroristen ermordet wurde, schrieb dazu Folgendes:

„Die immer wieder angesprochenen Eigenschaften, die Manager und Unternehmer angeblich haben müssen, um erfolgreich zu sein, sind Klischees, die nur die halbe Wahrheit abbilden. Schöpferische Gestaltungsfähigkeit, Urteilskraft, Selbstvertrauen, vielseitiges Wissen, Entschlussfreude, Zähigkeit – Anforderungen, die man spontan mit der Rolle des Managers assoziiert – stellen selbstverständliche Voraussetzungen für diesen Beruf dar, aber sie machen ihn nicht aus. Es sind sehr vordergründige Paradigmata, mit denen man Oberflächenphänomene zutreffend beschreibt.“ 1

Die alles entscheidende geistige Haltung

Herrhausen nennt diese erfolgversprechenden Verhaltensweisen „Oberflächenphänomene“. Hier spürt man den Kenner, der niemals behaupten würde, gutes Benehmen reiche schon, um erfolgreich zu sein. Vielmehr spricht er aus, dass es eben nur die Oberfläche betrifft und das Eigentliche, worauf es ankommt, nicht ersetzen kann. Auf dieses Eigentliche, Tieferliegende weist Herrhausen mit folgenden Worten hin: „… das Unsichtbare und Unwägbare, das die alles entscheidende geistige Haltung konstituiert, wird damit kaum erfasst.“

Und weiter heißt es: „Jeder, der eine Top-Managementposition bezieht, nimmt im Vergleich zu seiner vorherigen Stellung in der betrieblichen Hierarchie nochmals einen tiefgreifenden Berufswechsel vor. Es ist nicht einfach eine Fortsetzung der bisherigen Tätigkeit auf höherer Ebene, was hier erfolgt, sondern etwas spezifisch Neues. Dabei ändern sich nicht die Fähigkeiten, sondern die Verantwortungen, nicht die Problemstrukturen, sondern deren Wertigkeit, oftmals nicht der Kreis der Mitarbeiter, immer aber der soziale Bezug zu ihnen. An die Stelle der klar umrissenen betrieblichen Aufgabe tritt eine viel weniger präzise gesellschaftspolitische Mission.

Zu der Verantwortung kommt die Pflicht, das Unternehmen als ein umfassenderes System zu verstehen, zu dessen dynamischem Gleichgewicht man nur ohne Ressortegoismus beitragen kann. Dieser Pflicht wird nicht gerecht, wer in der Rolle des Nur-Technikers, Finanzmannes, Personalchefs verharrt. Auf der Ebene der obersten Unternehmensführung besteht eine fatale Solidarität derer, die für den Gesamterfolg gemeinschaftlich verantwortlich sind. Sie erfordert Teamverhalten anstelle von Konkurrenz, Toleranz statt eigensüchtiger Ambitionen, Gruppengeltung und nicht Einzelprestige.

Das ist in einem System, das Wettbewerb auch als Wettbewerb um individuelles Ansehen und um hierarchischen Vorrang impliziert, nicht einfach. Ganz oben sollen plötzlich das natürliche Unterscheidungsverlangen und der persönliche Ehrgeiz eingeschränkt und durch Integrationspflicht ersetzt werden – ein schwieriger, aber notwendiger psychologischer Sprung. Er macht die Spitzenposition nicht nur zu einer Würde, sondern auch zur Bürde, die innere Bescheidenheit verlangt, Anmaßung nicht verträgt.“

Die angesprochene „alles entscheidende geistige Haltung“, verträgt keine Anmaßung und verlangt Integrationsfähigkeit und ein Verantwortungsbewusstsein, das eigene Interessen denen des gesamten Unternehmens unterordnen und dabei bescheiden bleiben kann. Herrhausen beschreibt damit eine wesentliche Qualität des Ich-Wesens des Menschen (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit).

Das Ich als zweischneidiges Schwert

Die wichtigste Fähigkeit des menschlichen Ich ist, dass es integrierend wirkt – sprich einzelne Aspekte harmonisch ins Ganze einfügt – und sich mit sich selbst und gleichzeitig mit dem Menschheitsganzen identifizieren kann. Andererseits ist es undenkbar, dass man als Mensch das Ziel der vollständigen Integration und Harmonisierung je erreicht, da das Ich sich erst nach und nach in unausgesetzten Lernprozessen seiner selbst bewusst wird. Entwicklung wird immer begleitet von der Möglichkeit, zu irren und zu versagen.

Das Ich verfügt über die fundamentale Eigenschaft, „Ja“ und „Nein“ sagen, trennen und verbinden zu können. Es kann unterscheiden und integrieren, ist also ein „zweischneidiges Schwert“, das einerseits ganz auf sich selbst gestellt ist und andererseits in der Lage ist, sich mit Welt und Mensch zu verbinden. Im Evangelium werden deshalb beide Eigenschaften dem Christus zugeschrieben. Als Förderer der Ich-Werdung des Menschen muss er sagen: „Ich bringe Trennung“ (von Luther mit „Zwietracht“ übersetzt), gleichzeitig bringt er auch Frieden.

Herrhausen führt weiter aus: „Das so oft beschworene Wort ‚Im Mittelpunkt des Betriebes steht der Mensch‘ stimmt eben nicht in dem Sinne einer spannungsfreien Zweckgemeinschaft. Betriebe sind das Spielfeld von sozialen Prozessen, in denen keine Harmonie herrscht, weil unsere Gesellschaft nun einmal kein Harmonieverein ist.“

Unsere Gesellschaft lebt im Spannungsfeld der Ich-Entwicklung in Form von Selbstfindung – „Trennung“ – und sozialer Integration – „Frieden“.

Das Fazit der Betrachtung von Alfred Herrhausen ist, dass wir, wenn wir den Anspruch haben, Erziehung zur Konfliktbewältigung zu leisten, durch die Oberfläche hindurch an den Kern der menschlichen Persönlichkeit herankommen müssen, an die spezifischen Fähigkeiten des Ich:

  • Konflikte auszuhalten,
  • Lösungsansätze aus der Gesamtwahrnehmung des Problems zu suchen,
  • den Mut zu haben, sie auf den Weg zu bringen.

Führung, die nicht primär der Selbstdarstellung dient, sondern die Aufgabe wahrnimmt, um die es geht, wird immer konstruktiv wirken. Allem voran gilt es das Unbehagen zu überwinden, überhaupt eine Führungsaufgabe zu ergreifen. Denn Dank und Anerkennung sind dabei selten zu ernten. Die Erwartung des Umfeldes, dass die Sache klappt, ist hoch und schon kleine Fehler werden mit Kritik geahndet.

Viel Wahres liegt in dem Spruch: „Man gebe die Macht denen, die sie nicht wünschen.“ Wer nicht führen will – dazu aber fähig ist –, ist auch dafür geeignet. Für ihn wird Führung zur anspruchslosen Dienstleistung, um derentwillen er persönliche Unannehmlichkeiten in Kauf nimmt. Er muss seine Selbstwahrnehmung auch dahingehend schulen, wahrnehmen zu können, ob er der Sache noch dient oder ob die Verantwortung in andere Hände abgegeben werden sollte.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 10. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997**

  1. Alfred Herrhausen, Denken, Ordnen, Gestalten. Siedler, München 1990; Neuaufl. 2004. Alfred Herrhausen war Vorstandssprecher bei der Deutschen Bank und ein international anerkannter Topmanager des Bankwesens. Nach seinem Tod ist aus dem umfangreichen Nachlass und aus Reden, die er gehalten hatte, dieses Buch zusammengestellt worden.