Die Pockenkrankheit und ihr geistiges Gegenbild

Im Jungmedizinerkurs schildert Rudolf Steiner die Pockenkrankheit zugleich mit dem ge-sunden geistigen Gegenbild als eine Art „Himmelsimagination“:

„Denken Sie sich die Pockenkrankheit, sie zeigt sich unter Symptomen des physischen Leibes. Aber denken Sie sich, man wäre zu folgendem imstande. Stellen Sie sich einen pockenkranken Menschen vor. Der würde in seinem Astralleib und seiner Ich-Organisation die Kraft haben, die ganze Pockenkrankheit heute herauszuziehen und sie nur im astralischen Leib und Ich zu erleben, so dass im Moment sein physischer und Ätherleib gesund würden. Nehmen Sie hypothetisch an, das wäre so. Was ich hier dargestellt habe, kann nicht eintreten, aber wenn Sie diese Imagination haben wollen, müssen Sie, ohne dass Ihr physischer Leib und ätherischer Leib die Pockenkrankheit annimmt, dasselbe, was ich hypothetisch darlegte bei der Pockenkrankheit, durchmachen. Sie müs-sen im astralischen Leib und in der Ich-Organisation, frei vom physischen und Ätherleib, die Pockenkrankheit durchmachen. Das heißt, Sie müssen geistig erleben, ein geistiges Korrelat von physischer Krankheit. Die Pockenkrankheit, meine lieben Freunde, ist das physische Abbild des Zustandes, in dem Ich-Organisation und Astralleib sind, wenn Sie eine solche Imagination haben. Jetzt werden Sie einsehen, dass bei der Pockenerkrankung einfach im Menschen selber dieser Einfluss geschieht, aus dem in geistiger Erkenntnis die Himmelsimagination wird. (...) Da aber sehen Sie, wie eng verwandt das Kranksein ist mit dem geistigen Leben, nicht mit dem physischen Leib, eng verwandt ist das Kranksein mit dem geistigen Leben. Das Kranksein ist die physische Imagination vom geistigen Leben. Und weil die physische Imagination zu Unrecht da ist, weil sie nicht nachahmen soll gewisse geistige Vorgänge, deshalb ist in der physischen Organisation das, was in der geistigen Welt unter Umständen ein Höchstes ist, unter Umständen in der physischen Organisation Krankheit.

Man muss also die Krankheit so begreifen, dass man sich sagt: Könnten nicht durch gewisse Dinge, die wir morgen einsehen werden, gewisse geistige Wesenheiten heruntergeholt werden, wo sie nicht hingehören, so wären sie auch nicht in der geistigen Welt vorhanden. - Damit aber zeigt sich, wie eng verwandt wirkliches geistiges Erkennen mit der Krankheit ist. Man erkennt eigentlich schon, indem man Geistiges erkennt, die Krankheit. Man kann gar nicht anders: wenn man einmal eine solche Himmelsimagination hat, dann weiß man, was Pockenkrankheit ist, weil sie nur die physische Projektion dessen ist, was man geistig erlebt. So ist es im Grunde genommen mit dem ganzen Krankheitswissen. Man möchte sagen: Wenn der Himmel - oder auch die Hölle natürlich - zu stark ergreifen den Menschen, so wird er krank, wenn sie nur seine Seele und seinen Geist ergreifen, wird er weise oder gescheit oder ein Einsichtiger.“1

Wie aber kann man die beschriebene Himmelsimagination, in der sich die fünf mehr auf kosmisch-weibliche Art wirksamen Wintersternbilder und die sieben kosmisch-männlich wirksamen Sommersternbilder im harmonischen Zusammenwirken zeigen, mit der Pockenerkrankung zusammen bringen?

Welche der Übungen in „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ kämen hier in Betracht, um zu zeigen, dass die Kräfte, die beim Üben zu entwickeln wären, jetzt am falschen Platz als physische Imagination von geistigem Leben auftreten?

In „Die Offenbarungen des Karma“2 nennt Rudolf Steiner die Pockenerkrankung ein Organ der Lieblosigkeit. Wenn Liebe sich nicht sozial betätigen kann und sich auch keine schöpferischen Organe im Zusammenwirken von männlichen und weiblichen Qualitäten schaffen kann, wird die Neigung, sich mit der Pockenkrankheit zu infizieren, gefördert. Es wird aber auch eine der ersten Pflichten und Übungsaufgaben des Geistesschülers verletzt, im Umgang mit Menschen keinen Unterschied zu machen bezüglich Rang und Namen, Volkszugehörigkeit aber auch in Bezug auf das männliche und weibliche Geschlecht. Letzteres ist besonders prekär. Die vielen täglichen Ungerechtigkeiten, Anzüglichkeiten, Demütigungen und „Gemeinheiten“ zu bemerken, die Männer gegen Frauen richten – und sie zu überwinden – könnte hier der „nicht am rechten Ort“ stattfindende Schulungsaspekt sein.

Die Pockenerkrankung jedenfalls ist äußerst „sozial“: Das zeigt sich nicht nur am Anste-ckungsmodus durch die hohe Kontagiösität und damit Weitergabe an möglichst viele sondern auch durch die Art und Weise, wie sich die Symptomatik aufbaut: Hohes Fieber als physischer Ausdruck von Wärme – die eigentlich seelische und geistige Wärme des Mitgefühls und Verstehens sein sollte – verbindet sich mit einer Blasenbildung an den Oberflächen von Haut, Schleimhäuten und auch den Oberflächen der inneren Organe – als ob sich die Grenzen jetzt physisch öffnen wollten, weil das seelische Sich-füreinander-Öffnen, wie es im Sinne des Schicksals der Betroffenen wäre, nicht gelingt. Auch haben wir es hier nicht mit einer typisch individuellen Erkrankung zu tun, sondern mit einer epidemisch auftretenden, die eine Antwort, ein Schicksalsausgleich, ist für ein soziales Entwicklungsdefizit, das der „Schicksalsheilung“ durch diese Krankheit bedarf.

Vgl. „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015

  1. Rudolf Steiner, Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst, GA 316, Dornach 2008, S. 119-120.
  2. Rudolf Steiner, Die Offenbarungen des Karma, GA 237.