Krankheit, Heilung und die Frage nach dem Sinn

Haben Krankheiten einen Sinn?

Gibt es unterschiedliche Arten der Sinngebung, je nach Schicksal und Umfeld?

Wie können Betroffene sinnstiftend mit Krankheit umgehen?

Wer die Krankengeschichten im Matthäus-, Markus-, Lukas- und Johannes-Evangelium liest, begegnet drei unterschiedlichen Arten von Heilung und Sinngebung. Dabei sind es die jeweiligen Schicksalsumstände, unter denen die Krankheit auftritt, die zu der Art der Heilung und Sinngebung Anlass geben.

1. Heilung auf der individuell-persönlichen Ebene

Als typisches Beispiel sei hier die Begegnung mit dem Blinden von Jericho angeführt:

„Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho herauszog, gefolgt von seinen Jüngern und einer großen Menge, da saß der Sohn des Timäus, Bartimäus, ein blinder Bettler, am Wege. Und als er hörte, dass Jesus von Nazareth vorüberkäme, begann er laut zu rufen: Sohn Davids, Jesus, habe Erbarmen mit mir! Und viele drohten und geboten ihm zu schweigen. Er aber rief nur umso lauter: Sohn Davids, habe Erbarmen mit mir! Da blieb Jesus stehen und sprach: Ruft ihn herbei. Und sie riefen den Blinden herbei und sprachen zu ihm: Mutig, stehe auf, er ruft dich! Da warf er seinen Mantel ab, sprang auf seine Füße und eilte zu Jesus. Und Jesus sprach zu ihm: Was soll ich für dich tun? Der Blinde sprach: Meister, gib, dass ich mein Augenlicht zurückerlange. Und Jesus sprach: Geh hin, dein Glaube hat dich geheilt. Und plötzlich konnte er wieder sehen und folgte ihm auf seinem Wege nach.“1

In dieser Krankengeschichte wird der Name des Betroffenen genannt, es findet eine individuelle Begegnung, ein „Arzt-Patienten-Gespräch“ statt. Es wird auch beschrieben, wie der Kranke sich verhalten soll und wie der Geheilte sich danach verhält: „...und folgte ihm auf seinem Wege nach“.

Diese Krankengeschichte erfordert individuelle medizinische Beratung – wie es heute fast ausschließlich geschieht. Die Heilung auf der individuellen Ebene wird in den Evangelien von einer inneren Erweckung bzw. Bekehrung begleitet.

2. Heilung im Sozialen, im Schicksalsumkreis des Betroffenen

Wenig beachtet werden heutzutage Krankengeschichten, bei denen nicht der Kranke selbst im Mittelpunkt steht, sondern bei denen es mehr um die Menschen im Umkreis geht, die im Zusammenhang mit der Heilung eine innere Verwandlung durchmachen. Hier sei „der Hauptmann von Kapernaum“ als Beispiel genannt:

„Als er diese Rede, die auch das Volk mitanhörte, vollendet hatte, ging er nach Kapernaum. Dort lag der Diener eines Hauptmanns darnieder und war dem Tode nahe; und er war ein Vertrauter des Hauptmanns. Als dieser nun von Jesus hörte, sandte er die Ältesten der Juden zu ihm und ließ ihn bitten, er möchte kommen, um seinem Diener das Leben zu retten. Sie kamen zu Jesus und baten ihn inständig mit den Worten: Er ist deines Beistandes würdig, denn er liebt unser Volk, und die Synagoge hat er uns erbaut. Und Jesus machte sich mit ihnen auf den Weg. Und als sie schon nahe bei dem Hause des Hauptmanns waren, sandte ihm dieser seine Freunde entgegen und ließ ihm sagen: Herr, bemühe dich nicht, ich bin nicht würdig, dass du in mein Haus eintrittst, darum habe ich auch nicht gewagt, selber zu dir zu kommen. Sprich nur ein Wort, so muss mein Knabe gesund werden. Ich bin auch ein Mensch, der höheren Gewalten untersteht, und ich wiederum habe Soldaten unter mir, und wenn ich zu dem einen spreche: Geh, so geht er, und zu dem anderen: Komm, so kommt er; und wenn ich zu meinem Diener sage: Tue dies, so tut er's. Als Jesus das hörte, erstaunte er, wandte sich zu der ihm nachfolgenden Menge und sprach: Ich sage euch, nirgends in Israel habe ich eine solche Kraft des Vertrauens gefunden. Und als die Abgesandten wieder in das Haus kamen, fanden sie den Diener genesen.“ 2

In dieser Krankengeschichte tritt das individuelle Schicksal des Betroffenen nicht in Erscheinung (vgl. Schicksal und Karma: Schicksalserleben – persönlich, beruflich-sozial und zeitgeschichtlich). Die entscheidenden Veränderungen, von denen im Zusammenhang mit der Heilung berichtet wird, vollziehen sich vielmehr bei den Menschen im Schicksalsumkreis des Kranken. Durch die plötzliche Krankheit des Knechtes finden die Ältesten der Juden, der Hauptmann selbst und dessen Freunde hin zu Christus. Der „Erfolg“, der Sinn der Krankheit, zeigt sich nicht am Betroffenen selbst, sondern an Menschen seines Schicksalsumkreises.

Kein Schicksal gleicht dem anderen

Es mag auf den ersten Blick befremden, dass ein Mensch eine schwere Krankheit durchmacht und es vor allem darum geht, was die ihn pflegenden und an seinem Leben und seiner Entwicklung Anteil nehmenden Menschen dadurch erleiden und erlernen. Doch der Blick in die tägliche Praxis zeigt, dass das oft der Fall ist:

  • Es gibt Krankheiten, die primär für die Betroffenen Sinn machen, während die Menschen im Umkreis bemüht sind, bei diesen Lernprozessen zu helfen, selber jedoch keine größeren Änderungen ihrer Lebenseinstellung oder Lebenseinsichten erfahren.
  • Es gibt aber auch genau das Umgekehrte: Der Erkrankte tröstet seine nahen Mitmenschen trotz der Schwere seines Zustandes, während die Menschen in seinem Umkreises von Verzweiflung, Sorge, Angst und Unsicherheit gezeichnet sind.

Die Schicksalsbeziehungen unter den Menschen sind außerordentlich differenziert. Was zählt, ist einerseits das ganz Individuelle der Entwicklungssituation des Einzelnen und andererseits seine Beziehung zu den Menschen um ihn herum. Im Hinblick auf die Schicksalsbeziehungen der Menschen untereinander kommen wir in einen Bereich, in dem alles unvergleichlich, besonders und einmalig ist. Kein Schicksal gleicht einem anderen; denn was innerlich durchgemacht und erlebt wird von den Menschen, unterscheidet sich sehr, so ähnlich auch die Lebensläufe nach außen hin erscheinen mögen. Das erkennt man, wenn man Einblick bekommt in das, was Menschen während ihres Lebens tatsächlich erlebt, erlitten und erreicht haben.

3. Heilung und Sinngebung im Hinblick auf die ganze Menschheit

Neben der individuell-persönlichen und sozialen Ebene gibt es noch eine dritte Ebene der Schicksalsbetroffenheit – die menschheitliche. Wie der einzelne Mensch sein Schicksal hat, so haben auch Menschengruppen, Religionsgemeinschaften, Völker, größere und kleinere soziale Vereinigungen wie Familien oder Arbeitsgemeinschaften ihr Schicksal. Darüber hinaus gibt es aber auch noch den allumfassenden menschheitlichen Schicksalszusammenhang. Die Menschheit als Ganze hat sich durch die Jahrtausende hindurch entwickelt, hat ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft – hat ihr Schicksal im Weltganzen.

Die Art des Krankseins um der Menschheit willen wirft die „letzten Fragen“ auf, rührt an den Kern unserer Persönlichkeit, an das in uns wirksame geistige Wesen, das wir mit dem Wort „ich“ benennen. Obgleich jeder mit diesem Wort sich selber kennzeichnet, ist es doch zugleich auch der Name aller Menschen. Wer ich bin ich sagt, macht damit deutlich, dass er sich mit sich selbst identifiziert – und dies tut jeder auf seine Art. Alle sind wir Menschen – aber wie wir das zum Ausdruck bringen, auf welchen Wegen wir zu uns selber kommen, wirklich wissen, wer wir sind – das macht uns zur einmaligen Individualität. Wir erkennen dabei auch, wie viel wir von anderen, aber auch aus der Entwicklungsgeschichte der Menschheit gelernt haben.

Was kann Heilung auf der menschheitlichen Ebene bedeuten?

Auch hier hat die Krankheit eine aufrüttelnde Bedeutung, indem sie dem Einzelnen seine Zugehörigkeit zum Menschheitsganzen bewusst machen kann. Als Beispiel für diese Art von Krankengeschichte sei die erste aus dem Lukas-Evangelium angeführt:

„Und er kam hinab nach Kapernaum, in die galiläische Stadt. Und auch dort lehrte er am Sabbat. Und die Menschen gerieten in Ekstase durch seine Lehre, denn sein Wort wirkte mit Geistgewalt. In der Synagoge war auch ein Mensch, der von einem unreinen Dämon besessen war. Dieser schrie mit lauter Stimme: Was ist es, das uns an dich bindet, Jesus von Nazareth? Bist du gekommen, uns zu vernichten? Ich weiß, wer du bist: Du bist der Heilige Gottes! Jesus erhob seinen Arm gegen ihn und sprach: Schweig und verlasse ihn! Da warf der Dämon den Menschen mitten im Raum zu Boden und fuhr von ihm aus, ohne ihm zu schaden. Alle waren voller Staunen und sprachen zueinander: Welche Gewalt des Wortes! Als wäre alle Schöpfermacht und Weltenkraft in ihm, so gebieterisch spricht er zu den unreinen Geistern, und sie müssen ihm weichen. Und die Kunde von ihm verbreitete sich durch das ganze umliegende Land..“ 3

Im Vergleich mit den beiden anderen hier angeführten Krankengeschichten fällt auf, wie wenig wir über den betroffenen Menschen in der Synagoge von Kapernaum erfahren. Es findet kein persönliches Gespräch mit ihm statt. Christus spricht vielmehr nur mit dem Geist seiner Krankheit, dem Dämon, und gebietet ihm, den Kranken zu verlassen. Auch die im Umkreis Stehenden werden keines Wortes gewürdigt. Sie sprechen untereinander und wundern sich, wie diese Heilung möglich war. Hier wird auf die rein geistige Ebene der Krankheit hingewiesen.

Notwendige Auseinandersetzung mit dem Bösen

Aus dieser Art Krankengeschichte geht hervor, dass die Menschheit offensichtlich die Auseinandersetzung mit dem Bösen und der Krankheit für ihre Entwicklung braucht (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Das Geheimnis des Bösen im Spiegel der Apokalypse). Davon künden alle Schöpfungsmythen, alle archetypischen Erzählungen von Licht und Finsternis – aber auch unsere tägliche Lebenserfahrung als Menschen des 21. Jahrhunderts.

Wo vergeht ein Tag, an dem wir nicht dem Bösen, dem Destruktiven oder zumindest dem Hemmenden in uns oder um uns begegnen, an dem uns diese dunkle Seite des Menschseins nicht durch Zeitung und Fernsehen vor Augen geführt wird?

Die Frage nach dem Sinn des Bösen gehört zu den wichtigsten, aber auch unerträglichsten, die das Leben an uns stellt. Wie sehr wünschte man sich die Möglichkeit menschlicher Entwicklung ohne die Auseinandersetzung mit diesem Alptraum des Menschlichen, dem schlechthin Inhumanen, Bösen und Widernatürlichen, so wie es gerade im 20. Jahrhundert durch Kriege und Völkermord und Brutalität im häuslichen Milieu tausendfältig in Erscheinung getreten ist und sich weiter fortsetzt. Und dennoch lehrt schon der schlichte Blick in die tägliche Lebenserfahrung, dass ohne die individuelle Auseinandersetzung mit dem Irrtum und dem Bösen etwas Wichtiges nicht entstehen könnte: das Bewusstsein von Selbständigkeit und Freiheit. Freiheit als zentrale Dimension menschlicher Würde ist mit Notwendigkeit gebunden an die Möglichkeit zu irren. Damit muss auch in der Konstitution einer Welt, in der Freiheit zur Entwicklung kommen soll, das Böse, das Entgegengesetzte, vorhanden sein dürfen (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Wirklichkeit und Notwendigkeit des Bösen).

Und so gibt es in der Medizin auch die Frage nach dem Geistig-Wesenhaften, das Krankheit und Heilung zugrunde liegt. Auf diese Dimension weist die Hiobsgeschichte aus der Bibel hin, an deren Beginn ein Dialog zwischen Gott und dem Teufel steht. Goethe hat in seinem „Prolog im Himmel“ zu Beginn des Dramas „Faust“ daran angeknüpft. Hiob, aber auch Faust, werden gesund bzw. gerettet, weil sie sich entwickeln, weil sie lernen und die innere Orientierung am Göttlichen nicht verlieren. Am Bösen erwacht der Sinn für das Gute, im Krankheitserleben die Sehnsucht nach Gesundheit und Heilung.

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 10. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004.

  1. Markus 10, 46-52, zit. nach der Übersetzung von Emil Bock.
  2. Lukas 7, 1-10, zit. nach der Übersetzung von Emil Bock.
  3. Lukas 4, 31-37, zit. nach der Übersetzung von Emil Bock.