Kunst als Weg zur Ergreifung des Ich

Wie hängen Kunst und menschliche Konstitution zusammen?

Welche Verbindung stellt die Anthroposophische Medizin als Heilkunst zur Kunst her?

Der Anthroposophische Kunstimpuls

Worin besteht nun der Anthroposophische Kunstimpuls?

Ich möchte gerne mit einem Wort von Marie Steiner1 beginnen, das sie im Jahre 1928 schrieb, als sie den Zyklus „Kunst im Lichte der Mysterienweisheit“2 herausgab:

„Ein Weg der lebensdurchpulsten, lebenserhärteten, aber auch besonnenen und durchsonnten Ergreifung des Ich ist die Kunst. Es ist einer der gesündesten und der aufschlußreichsten, einer der geradesten, der am spätesten von seiner Ursprungsstätte, dem Tempel der Mysterienweisheit, abgebogen ist.“

Für sie war Kunst der Weg zur Ergreifung des Ich, der dem Ursprung alter Mysterienweisheit noch am nächsten ist, der aber auch am ehesten wieder den Anschluss an die neue Mysterienweisheit finden kann. Abstrakt formuliert ermöglicht dieser Weg die Vorbereitung der Naturreiche auf den Jupiter, ist also reine Zukunftssaat. Konkret gesprochen ist er praktizierte Menschenerkenntnis.

Kunst und Heilkunst

Rudolf Steiner nennt die Anthroposophische Medizin eine Heilkunst (vgl. Anthroposophische Medizin: Anspruch und Aufgabe). Denn das Bedeutendste, was die Anthroposophie der Medizin geben konnte und kann, ist der Kunstimpuls. Das zu erkennen genügt aber nicht. Vieles scheitert, weil man das Erkannte noch nicht beherrscht. Das gilt auch für die Heilkunst. Der Kunstimpuls ist veranlagt, jetzt müssen wir lernen, ihn umzusetzen.

Alle Kunst ist eine Projektion der menschlichen Konstitution – das herausgefunden zu haben, ist Rudolf Steiners bahnbrechender künstlerischer Erneuerungsimpuls:

  • Ohne die physische Beschaffenheit der Knochen gäbe es keine sich ständig wandelnde originelle Architektur.

  • Ohne Lebenstätigkeit, Wachstum, Ausstülpung, Einstülpung gäbe es keine Plastik. Der lebendige Körper hat diese Formen zuerst gebildet.

  • Ohne Gefühls- und Seelentätigkeit gäbe es keine Malerei. Dreidimensionales wird auf die Fläche projiziert, in die Zweidimensionalität. Der Schwerpunkt verlagert sich auf den Prozess. Es geht in der Malerei um Farbklänge, um Stimmungen. Dabei zeigt sich die Regenbogenbefindlichkeit des Menschen: von dunkel bis hell, je nachdem, wie der Mensch gerade gestimmt ist.

Darauf möchte ich im Folgenden genauer eingehen.

Bildegesetze des Körpers und Kunstrichtungen

  • 1. Architektur

Die Baugesetze des physischen Leibes spiegeln sich in der Architektur: Die Architektur nimmt die Baugesetze des Kristallinen und gestaltet mithilfe diverser Baumaterialien Äußeres auf der Grundlage dieser inneren Gesetze. Und so hat auch das Goetheanum eine Außengestaltung und eine Innengestaltung. Alles beruht jedoch auf den Baugesetzen des physischen Leibes: Wir sehen hier im Goetheanum keine Form, die man der Veranlagung nach am menschlichen Körper nicht auch findet – die Säulen, das Dach und alle anderen Formen entsprechen den Rippen, den Schulterblättern, dem Kopf usw. Die so genannte organische Architektur entnimmt ihre Form den Knochen, den Bändern, den Muskelzügen, aber insbesondere den Knochen, wie man hier überall sehen kann.

Das lässt sich anhand eines anatomischen Atlas nachprüfen: Die Formen unserer Knochen finden wir in Dreiecken und Quadern, aber auch in allen gebogenen Flächen wieder, wie z.B. die zweifach gekrümmte Fläche, für die unser Schlüsselbein der Archetyp ist. Das Rechteck und die Rundung des Gesichts, der Kubus und die Wölbung des Kopfes, das Oval des Rumpfes, der aufrechte Mensch als Vorbild für die geraden Säulen – das alles sind Projektionen der körperlichen Konstitution.

  • 2. Plastisches Gestalten

Wahr ist außerdem, dass wir mit denselben Kräften künstlerisch tätig sind, die unseren Körper aufgebaut und geformt haben und mit denen wir geistig tätig sind. Beim plastischen Gestalten, beim Plastizieren, werden diese Gesetzmäßigkeiten der Bildekräfte unseres ätherischen Organismus abgebildet (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des Ätherleibes).

  • 3. Malerei

In der Malerei finden wird die Bildegesetze des Astralisch-Ätherischen wieder. Dreidimensionales wird auf die Fläche projiziert, in die Zweidimensionalität. Es erscheint auf der Fläche abgebildet. Der Schwerpunkt verlagert sich auf den Prozess. Es geht in der Malerei um Farbklänge, um Stimmungen, wobei die Farben dem seelischen Empfinden Ausdruck verleihen. Sie sind dem Seelischen unmittelbar zugänglich. Dabei zeigt sich die Regenbogenbefindlichkeit des Menschen: von dunkel bis hell, je nachdem, wie der Mensch gerade gestimmt ist.

Leonardo Da Vinci schrieb ein Buch für Maler3 und sagte dort sinngemäß: „Man kann den ungeübten Maler vom professionellen durch eine Sache unterscheiden: Der Ungeübte merkt nicht, dass er sich beim Malen immer selbst portraitiert. Der geübte Maler weiß, was er gestaltet und passt auf, dass er sich nicht selbst in seinen Bildern projiziert.“

In der ersten Stunde einer Maltherapie lässt der anthroposophische Therapeut seine Patienten völlig frei malen. Selbstverständlich malen sie ihre Krankheit, projizieren sie diese aufs Papier. Nur wenn der Therapeut sich nicht ganz sicher ist, dürfen drei Bilder gemalt werden. Diese Erstlingsbilder sind diagnostische Bilder.

Rudolf Steiner wollte nicht, dass die Lehrer an den Waldorfschulen ihre Schüler aus dem Bauch heraus frei malen lassen. Warum? Hin und wieder ist es sinnvoll, damit der Lehrer den aktuellen Zustand der Kinder sieht, aber ansonsten wollte Rudolf Steiner, dass die Kinder Aufgaben gestellt bekommen, damit sie an einer konkreten Aufgabe lernen, die eigenen, oft nicht ganz gesunden konstitutionellen Verhältnisse zu ordnen, zu strukturieren und zu klären und damit eine gesundende Rückwirkung auf das Zusammenspiel von Körper und Seele zu erzielen.

Wir gestalten und beeinflussen über die Malerei unsere seelische Befindlichkeit. Um einen gesundenden Einfluss auf die Seele ausüben zu können, müssen wir lernen, unsere Beziehung zur Welt objektiv zu gestalten und darzustellen und uns nicht immer wieder nur aus unserem subjektiven Empfinden heraus selbst darzustellen.

  • 4. Musik

Musik ist die Projektion der wundervollen Gesetze des Ich (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen der Ich-Organisation) mit seinen Verlust- und Wiedergeburts-Erfahrungen, die musikalische Projektion des Ich im Astralischen.

Deswegen kann es gar nicht anders sein, als dass Musik echte Initiationserfahrungen ermöglicht: Der Mensch erlebt durch die Musik sein Schicksal, die Abgründe, die Auf- und Abstiege und Turbulenzen seines Lebens, aber auch die Zerrissenheit und das Zersplittert-Sein seines Ich-Bewusstseins; durch die Musik kann man unmittelbar und in Reinform zum Ausdruck bringen, was das Ich vernichtet und was es erhebt.

In der Musik – insbesondere beim Gesang lässt es sich fast mit Händen greifen – offenbart sich das Ich in seiner seelischen Befindlichkeit: So wie das Ich in der Seele lebt, so wie es sich in die Seele projiziert, so drückt es sich in der Musik aus.

Deswegen lieben wir Musik. Wir kommen durch sie entweder ganz zu uns oder wir erhalten durch sie die Möglichkeit, von unserer niederen Befindlichkeit loszukommen, uns wegzuträumen, abzuheben, seelisch auszusteigen. Durch die Musik werden unserem Ich seelische Abgründe und der damit verbundene Läuterungs-, Klärungs- und Selbstfindungsbedarf deutlich bewusst.

  • 5. Wortkunst

Durch das Wort ragt eine höhere Wirklichkeit in uns herein. Man öffnet sich der geistigen Welt. Denn mit Worten sind ganz reale Wesen und Realitäten verbunden.

Wir haben viele Möglichkeiten, die Heilkraft des Wortes therapeutisch zu nützen:

Die Dichtkunst, das gedichtete, weisheitsvoll gestaltete Wort ist eine Projektion aus der Geistselbst-Region, der geläuterten Astralität.

  • 6. Eurythmie

Eurythmie ist eine Projektion aus der Lebensgeist-Sphäre und vereint alle genannten Gesetzmäßigkeiten in sich: Durch Eurythmie wird der physische Leib von dem erstarkten Ätherleib zur Gänze ergriffen und wird zu einer sich im Raum konfigurierenden, bewegten Plastik, die ätherischen Gesetzmäßigkeiten folgt. Sie handhabt ganz bewusst die Lebensgesetze und bringt dadurch Körper, Seele und Geist in harmonische Übereinstimmung. Diese Bewegungskunst ist die beste Gesundheits- und Lebensvorsorge, die es gibt.

Eurythmie integriert alle Künste: den architektonischen Aufbau, die plastische Gestaltung, Farben, Licht, Musik und Wort. Diese Kunstrichtung ist eine Projektion des alles umfassenden Menschengeistes, die vollbewusste Arbeit am eigenen Schicksal möglich macht. Rudolf Steiner spricht das zwar nicht so direkt aus, erläutert diese Zusammenhänge aber an einer Stelle, an der er über das Karma spricht. Dieser höchste Kunstimpuls ist eine Möglichkeit, die eigene Menschenwesenheit systematisch zu verwandeln.

Wenn ich ausdauernd Eurythmie mache, bringe ich mein Denken, Fühlen und Wollen ganz bewusst in ein harmonisches Zusammenspiel. Ich ermögliche es geistig-seelischen Kräften, gesunden Formen, Gedanken, Gefühlen und Willensimpulsen, die ganz selbstlos sind und nicht meine Befindlichkeit widerspiegeln, sich in meinem Körper auszuwirken. Ich kann Bauchweh haben und trotzdem noch ein schönes B machen. Ich kann mich selbst überwinden durch den Prozess und durch die Form und kann etwas Höheres, Wahreres, Reineres in meinen Körper hineinbringen und durch den Körper hindurchgehen lassen. Dadurch wird mein geistig-seelisch-körperlicher Zusammenhang in sich stimmiger und gesünder.

Manchmal werde ich aufgrund meines ungesunden Lebens, meines vielen Herumreisens, gefragt, wie ich diese Art zu leben aushalte. Wieso ich bei alledem nicht krank werde. Ohne garantieren zu können, dass ich nicht just morgen krank werde, kann ich auf diese Frage nur antworten: Ich verdanke meine Gesundheit der Eurythmie. Ich verdanke sie dem anthroposophischen Kunstimpuls, weil er mir hilft, wenn ich mich irgendwo verrannt habe oder eine Einseitigkeit entwickelt habe, wieder in mir selbst stimmig zu werden, mit mir selbst in Einklang zu kommen.

  • 7. Schicksalskunst

Christian Morgenstern prägte das wunderbare Wort, dass es darauf ankomme, „sich selbst zum Kunstwerk zu machen“.

Wenn wir uns an die geistig-meditative Schulung machen, können wir lernen, unsere unbewussten Projektionen, die uns veranlassen, Ansprüche an andere zu stellen anstatt an uns selbst, aufzudecken und „heimzuholen“ (vgl. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung: Selbsterkenntnis und Selbsterziehung).

In der Medizin gibt es eine Reihe von Therapieverfahren, durch die man lernen kann, die eigenen Lebensprobleme nicht mehr nach außen zu projizieren: auf das Elternhaus, auf die schwierige Situation in der Schule, auf die Kollegen, auf die Situation am Arbeitsplatz usw. Wir Menschen sind alle sehr einfallsreich, wenn es ums Delegieren der Verantwortung für unsere eigenen Schicksalsprobleme an die Umwelt geht. Wenn wir unseren Blick dafür schulen, erkennen wir, dass wir mit dieser Haltung unser kostbarstes künstlerisches Selbstgestaltungsmaterial weggeben und die Arbeit an uns selbst anderen aufhalsen (vgl. Biographiearbeit: Rückschau auf das eigene Leben).

Der anthroposophisch-meditative Schulungsweg als siebte Kunst schult uns darin, in kleinen Schritten unbewusste Projektionen der eigenen noch nicht geläuterten Menschenwesenheit Stück für Stück heimzuholen und Probleme an dem Platz zu bearbeiten, von dem sie ausgegangen sind.

Vgl. Vortrag auf der Jugendtagung „Mittendrin“, Dornach, Juli 2007

  1. Marie Steiner, auch Marie Steiner-von Sivers, geborene Marie von Sivers oder Sievers, Siebers (* 14. März 1867 in Włocławek; † 27. Dezember 1948 in Beatenberg, Schweiz), war eine deutsch-baltische Schauspielerin, Regisseurin, Theosophin und Anthroposophin. Als zweite Ehefrau Rudolf Steiners (Begründer der Anthroposophie) besaß sie die österreichische Staatsbürgerschaft. (ges. am 24.04.2024 auf https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Steiner)
  2. Rudolf Steiner, Kunst im Lichte der Mysterienweisheit. Acht Vorträge, gehalten in Dornach vom 28. Dezember 1914 bis 4. Januar 1915 mit einem Geleitwort von Marie Steiner. GA 275.
  3. Leonardo da Vinci, Das da Vinci Universum - Die Notizbücher des Leonardo, Hrsg. Emma Dickens, Berlin 2006.