Vorwort zum Medienratgeber
Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Aktuelles zum Thema Digitalisierung zu lesen oder zu hören ist. Man geht davon aus, dass in den nächsten 20 Jahren 60 bis 70% der aktuell vorhandenen Berufe durch elektronische Geräte und Roboter ersetzt werden können. Kein Wunder, dass viele Eltern denken:
In diese Welt wachsen die Kinder hinein – warum sollten sie nicht auch schon von Anfang an mit dieser Technik konfrontiert und daran gewöhnt werden nach dem Motto: Früh übt sich, wer ein Meister werden will? (vgl. Medienpädagogik: Aufruf gegen zu frühe Gewöhnung an Medien)
Noch dazu, wo die offiziellen bildungspolitischen Empfehlungen genau in diese Richtung zielen?
Dabei wird übersehen, dass eine Technologie, die vom menschlichen Bewusstsein bedient wird, dieses auch stark in seiner Entwicklung beeinflusst. Das ist für ältere Jugendliche und Erwachsene kein Problem, wenn sich ihre Gehirne in der analogen Welt gesund entwickeln konnten – wohl aber für die Heranwachsenden, bei denen dieser Prozess noch nicht genügend abgeschlossen ist (vgl. Medienpädagogik: Negative Folgen einer zu frühen Gewöhnung an digitale Medien). Daher gibt es zunehmend auch die warnenden Stimmen, vor allem aus wissenschaftlicher, medizinischer und entwicklungspsychologischer Sicht (vgl. Medienpädagogik: Herausforderungen des digitalen Zeitalters für Erziehung und Therapie).
In vielen Studien und aus großen Metaanalysen werden Forschungsergebnisse vorgestellt, die auf Nebenwirkungen und Gefahren einer zu frühen Digitalisierung in Kindergarten und Schule hinweisen: Beeinträchtigung der Frontalhirnentwicklung und des damit verbundenen autonomen Denk- und Kontrollvermögens, Haltungs- und Augenschäden, Empathieverlust, Defizite im sprachlichen Ausdrucksvermögen, Abhängigkeiten von sozialen Netzwerken, Suchtgefährdung – ganz abgesehen von den noch viel zu wenig beachteten Nebenwirkungen des Elektrosmogs auf das Nervensystem, das in Kindheit und Jugend viel sensibler reagiert als später.
Dabei gibt es auch zu bedenken, dass prominente IT-Größen wie Steve Jobs, Bill Gates, Jeff Bezos ihren Kindern den frühen Zugang zu Smartphone & Co. versagten und gemäß Statistiken die Kinder von Akademikern weit weniger Zeit vor dem Bildschirm verbringen als die der übrigen Bevölkerung. Auch sind sich Entwicklungsneurologen wie Prof. Gerald Hüther und Wirtschaftsexperten wie McAfee, Direktor für Digital Business am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge einig, dass es in der durch Informationstechnologie bestimmten Welt von morgen vor allem Kreativität, soziale Kompetenz sowie unternehmerisches Denk- und Handlungsvermögen braucht.
Der chinesische Unternehmer Jack Ma, der den asiatischen Amazon-Konkurrenten Alibaba aufgebaut hat, brachte es beim Weltwirtschaftsforum in Davos auf den Punkt: Statt Wissen zu pauken, das doch jeder Computer schneller parat hat, sollten die Schulen „Werte, Vertrauen, unabhängiges Denken, Teamwork“ lehren und kreativen Fächern wie Kunst, Kultur, Musik und Sport mehr Raum geben (vgl. Medienpädagogik: Medienpädagogik und Erziehung zur Freiheit). Diese kreativen und unternehmerischen Kompetenzen jedoch haben ihr Entwicklungsfundament in der analogen Welt, nicht in der digitalen!
Diesem Paradox müssen wir uns stellen: Soziale Fähigkeiten, Kreativität und schöpferisches Denken brauchen für ihre Entwicklung den unmittelbaren Umgang mit Menschen und das Gespräch mit Andersdenkenden (vgl. Medienpädagogik: Differenzierter Umgang mit Natur, Mitmensch und Technik), nicht den Computer.
Was also ist zu tun?
All dies zu wissen hilft ja noch nicht, den Familienalltag zu meistern, in dem das Smartphone nicht nur zum unentbehrlichen Begleiter, sondern oft auch zum Streitpunkt geworden ist. Es braucht hier klare Hinweise und praktische Tipps, wie man Kinder und Jugendliche in ihrem jeweiligen Lebensalter so begleitet, dass die möglichen Schäden vermieden werden können. Dafür ist dieser Medienratgeber1 gedacht. Er zeigt auf, was Kinder und Jugendliche für einen gesunden Einstieg ins mediale Zeitalter brauchen. Viele Fachleute und Organisationen haben dafür den Autoren – Medienexperten und Pädagogen – zur Seite gestanden, wie die Liste der Unterstützer und Förderer dieses Ratgebers zeigt. Was sie verbindet ist die Liebe zu den Heranwachsenden und die große Verantwortung, die wir ihnen gegenüber haben. Unsere Hoffnung ist, möglichst vielen Kindern und Jugendlichen ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen, damit sie ihrer digitalen Zukunft kompetent begegnen können und den Anforderungen ihres Lebens gewachsen sind.
Vgl. Michaela Glöckler, Vorwort zu „Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt“, Stuttgart 2018