Individualisierung als Entwicklungsmotiv

Liegt der Menschheitsentwicklung ein zentrales Motiv zugrunde?

Welche Entwicklungsepochen beschrieb Rudolf Steiner?

Entwicklung als zunehmendes Herauslösen aus Vertrautem

Aus dem Geist der Entwicklung heraus hat Goethe den „Faust“ geschrieben, der das Menschheitsdrama schildert für den 5. nachatlantischen Kulturzeitraum. Dieser begann gemäß Rudolf Steiners geisteswissenschaftlicher Forschung im Jahr 1413 und wird bis zum Jahre 3573 dauern. Ein Kulturzeitraum, in dem es um die Individualisierung des Menschen geht, um das allmähliche Herauslösen aus den vertrauten Gruppenzugehörigkeiten wie Volk, Religion, sozialen Wertesystemen, Familien- und Berufszusammenhängen (vgl. Menschheitsentwicklung: Individualisierungsprozesse in der Menschheitsentwicklung).

Wir befinden uns menschheitlich in einer dramatischen Übergangssituation von Kulturen einerseits, die im guten Sinne des Wortes geprägt sind von Empfindungen nationaler, kulturell-religiöser und familiärer Zugehörigkeit. Die Menschen beziehen ihre Identität aus dieser Zugehörigkeit. Sie erleben sich noch stak über dieses Eingeordnet- und Eingebettet-Sein.

In Europa und in Amerika andererseits ist es ganz klar, dass der kulturelle Fortschritt über das Individuum geht, das sich in Zukunft ganz auf die eigenen Füße stellen muss. Damit das gelingt, muss es lernen, Einsamkeit auszuhalten und der Versuchung zu widerstehen, sich von Drogen, Menschen und Gruppen abhängig zu machen, um nur ja diese Einsamkeit nicht erleben zu müssen.

Wir befinden uns an einer Art Nullpunkt oder Nadelöhr, das eigene Ich, die eigene Identität betreffend:

  • Je weiter man in der vorchristlichen Zeit zurückgeht, desto stärker ist das Bewusstsein des Einzelnen vom Kollektiv bestimmt.

  • Umgekehrt sieht man, dass die Individualisierung, die Entwicklung des Persönlichkeitsbewusstseins, in der nachchristlichen Zeit immer stärker zugenommen hat.

Evolution zwischen Saturn und Vulkan

Von Goethe stammt der epochale Satz „Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleibt im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.“1

Rudolf Steiner geht dabei noch weiter. Er spannt sein menschheitliches Bewusstsein aus von den Ursprüngen auf dem „alten Saturn“ bis „zum Vulkan“, der letzten Verkörperung unseres Erdenplaneten und seiner Bewohner. Mitten drinnen aber in dieser gewaltigen Evolution beschreibt er einen Kulturzusammenhang wie eine kosmische Uteruswand.2 Er schildert, wie das einzelne Menschenleben eingebettet ist in die Rhythmen des Sonnensystems. So atmet der Mensch ca. 18-mal pro Minute in Ruhe. Das heißt, er atmet in der Stunde 18 x 60 und in 24 Stunden 18 x 60 x 24 = 25 920-mal. Diese Zahl entspricht als berühmte „Platonische Zahl“ eines Weltenjahres der Dauer der Wanderung des Frühlingspunktes durch den ganzen Tierkreis. Es kennzeichnet diese Zahl im tiefsten Sinn das Geheimnis der Atmung, das auch das Geheimnis Raphaels ist.

Interessanterweise hat die Präzessionsbewegung der Erdachse in ihrem zeitlichen Ablauf, wie wir diese aus der modernen Astronomie kennen, ebenfalls mit dieser platonischen Zahl zu tun: Die Erde dreht sich in etwa 24 Stunden einmal um ihre eigene Achse. Im Zeitraum von 25 920 Jahren jedoch beschreibt die Erdachse dabei einen in sich geschlossenen Kreiskegel. Während also die Erdachse in ca. 25 920 Jahren auf einem Kegelmantel einmal herum wandert, hat sich die Erde dabei ca. 25 920-mal um die Sonne bewegt – und zwar in entgegengesetzter Richtung wie die Präzessionsbewegung.

Drei plus sieben Kulturepochen

Kulturgeschichtlich umfasst dieser Zeitraum von 25 920 Jahren zwölf Kulturepochen: fünf atlantische und sieben nachatlantische zu durchschnittlich je 2160 Jahren. Für die sieben nachatlantischen Epochen hat Rudolf Steiner in seinen frühen esoterischen Vorträgen3 sieben Entwicklungsgeheimnisse bezeichnet (vgl. Menschheitsentwicklung: Die sieben Kulturepochen):

  • für die urindische Epoche das Geheimnis des Abgrunds,
  • für die urpersische Epoche das Geheimnis der Zahl,
  • für die ägyptisch-chaldäisch-babylonisch-assyrisch-hebräische Epoche das Geheimnis der Alchemie,
  • für die griechisch-lateinische Epoche das Geheimnis des Todes,
  • für die 5. Kulturepoche das Geheimnis des Bösen,
  • für die 6. Kulturepoche das Geheimnis des Wortes,
  • für die 7. Kulturepoche das Geheimnis der Gottseligkeit.

Lässt man die Abfolge dieser Entwicklungsgeheimnisse auf sich wirken, so kann man auch das gemeinsame Motiv darin erkennen: das Motiv der Individualisierung des Menschen.

Kultureller Fortschritt über das Individuum

Denn erst das Individuum, egal welcher Hautfarbe, ist bereit und fähig, in anderen Zeiträumen und Entwicklungsnotwendigkeiten zu denken als die heutige Tagespolitik. Setzt man sich mit zukunftsorientierten Menschen zusammen, werden Ideale wieder Thema, kann man wieder fragen, worum es überhaupt geht in einem Menschenleben:

In welcher Welt wollen wir leben?

Welche Zukunft wollen wir für unsere Kinder?

Warum lohnte es sich gerade heute, auf die Erde zu kommen?

Eltern fragen sich, wie sie ihre Kinder begleiten müssen, welche Bedingungen diese brauchen, um später den Mut haben, sich auf die eigenen Füße zu stellen und den vielfältigen Versuchungen, sich hier und dort anzulehnen und einfach nur mitzumachen, zu widerstehen. Das setzt sehr viel Eigenständigkeit voraus.

Der individualisierte Mensch wird sich zunehmend freiwillig in selbst geformte und selbst gewollte Gruppen-Zusammenhänge stellen, wird sich dort engagieren und seine eigene Note bzw. seine besonderen Fähigkeiten einbringen, um seinen ganz persönlichen Beitrag für die Welt zu leisten.

Vgl. „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015

  1. Johann Wolfgang Goethe, West-östlicher Divan, Berlin 1974.
  2. Rudolf Steiner, Das Zusammenwirken von Ärzten und Seelsorgern. Pastoral-Medizinischer Kurs, GA 318, Dornach 1994, S. 138.
  3. Rudolf Steiner, Kosmogonie, GA 94, Dornach 2001, S. 111 ff.