Individualisierung als Entwicklungsmotiv

Liegt der Menschheitsentwicklung ein zentrales Motiv zugrunde?

Aus dem Geist der Entwicklung heraus hat Goethe den „Faust“ geschrieben, der das Menschheitsdrama schildert für den 5. nachatlantischen Kulturzeitraum. Dieser begann gemäß Rudolf Steiners geisteswissenschaftlicher Forschung im Jahr 1413 und wird bis zum Jahre 3573 dauern. Ein Kulturzeitraum, in dem es um die Individualisierung des Menschen geht, um das allmähliche Herauslösen aus den vertrauten Gruppenzugehörigkeiten wie Volk, Religion, sozialen Wertesystemen, Familien- und Berufszusammenhängen (vgl. Menschheitsentwicklung: Individualisierungsprozesse in der Menschheitsentwicklung).

Von Goethe stammt der epochale Satz „Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleibt im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.“1

Evolution zwischen Saturn und Vulkan

Rudolf Steiner geht dabei noch weiter. Er spannt sein menschheitliches Bewusstsein aus von den Ursprüngen auf dem „alten Saturn“ bis „zum Vulkan“, der letzten Verkörperung unseres Erdenplaneten und seiner Bewohner. Mitten drinnen aber in dieser gewaltigen Evolution beschreibt er einen Kulturzusammenhang wie eine kosmische Uteruswand.2 Er schildert, wie das einzelne Menschenleben eingebettet ist in die Rhythmen des Sonnensystems. So atmet der Mensch ca. 18-mal pro Minute in Ruhe. Das heißt, er atmet in der Stunde 18 x 60 und in 24 Stunden 18 x 60 x 24 = 25 920-mal. Diese Zahl entspricht als berühmte „Platonische Zahl“ eines Weltenjahres der Dauer der Wanderung des Frühlingspunktes durch den ganzen Tierkreis. Es kennzeichnet diese Zahl im tiefsten Sinn das Geheimnis der Atmung, das auch das Geheimnis Raphaels ist.

Interessanterweise hat die Präzessionsbewegung der Erdachse in ihrem zeitlichen Ablauf, wie wir diese aus der modernen Astronomie kennen, ebenfalls mit dieser platonischen Zahl zu tun: Die Erde dreht sich in etwa 24 Stunden einmal um ihre eigene Achse. Im Zeitraum von 25 920 Jahren jedoch beschreibt die Erdachse dabei einen in sich geschlossenen Kreiskegel. Während also die Erdachse in ca. 25 920 Jahren auf einem Kegelmantel einmal herum wandert, hat sich die Erde dabei ca. 25 920-mal um die Sonne bewegt – und zwar in entgegengesetzter Richtung wie die Präzessionsbewegung.

Drei plus sieben Kulturepochen

Kulturgeschichtlich umfasst dieser Zeitraum von 25 920 Jahren zwölf Kulturepochen: fünf atlantische und sieben nachatlantische zu durchschnittlich je 2160 Jahren. Für die sieben nachatlantischen Epochen hat Rudolf Steiner in seinen frühen esoterischen Vorträgen3 sieben Entwicklungsgeheimnisse bezeichnet (vgl. Menschheitsentwicklung: Die sieben Kulturepochen):

  • für die urindische Epoche das Geheimnis des Abgrunds,
  • für die urpersische Epoche das Geheimnis der Zahl,
  • für die ägyptisch-chaldäisch-babylonisch-assyrisch-hebräische Epoche das Geheimnis der Alchemie,
  • für die griechisch-lateinische Epoche das Geheimnis des Todes,
  • für die 5. Kulturepoche das Geheimnis des Bösen,
  • für die 6. Kulturepoche das Geheimnis des Wortes,
  • für die 7. Kulturepoche das Geheimnis der Gottseligkeit.

Lässt man die Abfolge dieser Entwicklungsgeheimnisse auf sich wirken, so kann man auch das gemeinsame Motiv darin erkennen: das Motiv der Individualisierung des Menschen.

Vgl. „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015

  1. Johann Wolfgang Goethe, West-östlicher Divan, Berlin 1974.
  2. Rudolf Steiner, Das Zusammenwirken von Ärzten und Seelsorgern. Pastoral-Medizinischer Kurs, GA 318, Dornach 1994, S. 138.
  3. Rudolf Steiner, Kosmogonie, GA 94, Dornach 2001, S. 111 ff.