Individualisierung und Einsamkeit

Warum ist der Prozess der Individualisierung oft so schmerzhaft?

Moderne Einsamkeit auf dem eigenen Weg

Ignatius von Loyola stellte die Frage: „Weiß ich, wohin ich gehe und was mein Weg ist?“ Diese Frage ist sehr modern. Jetzt werden einige sagen: Aber das Tao (der Weg) der Chinesen ist 5000-7000 Jahre alt. Der „Camino“ ist natürlich so alt wie die Menschheit selbst.

Aber was ganz neu ist und was viele Menschen auch noch gar nicht aushalten, ist erst seit dem 16. und 17. Jahrhundert möglich: Zu dieser Zeit begann das Bewusstsein zu erwachen, dass der einzelne Mensch seinen Weg alleine gehen muss. Dieser „Einsamkeitsschock“ ist etwas Modernes: Man spürt, dass es einem nicht hilft, wenn der liebste Freund mit großer Sicherheit seinen Weg geht, wenn man selbst von Unsicherheit erfüllt ist. Man kann versuchen sich anzuklammern. Dann geht man aber nicht den eigenen Weg und irgendwann merkt man, dass das nicht funktioniert.

Allem voran muss ich auf dem Weg der Individualisierung die Einsamkeit bejahen (vgl. Menschheitsentwicklung: Individualisierungsprozesse in der Menschheitsentwicklung). Es gibt ein berühmtes Gedicht von Christian Morgenstern:

„Die zur Wahrheit wandern, wandern allein. Keiner kann des andern Wegbruder sein …“

Aber das Schöne ist: Wenn viele Menschen einsam auf die Wahrheit zugehen, treffen sie sich in der Wahrheit. Wir machen deshalb die paradoxe Erfahrung: Je größer meine Bereitschaft ist alleine zu gehen, umso inniger wird die Geistgemeinschaft derer, die alleine gehen. Denn wenn ich weiß, meine liebsten Freunde sind auf ihrem Weg genau so allein wie ich, entsteht schon dadurch eine ganz neue spirituelle Verbindung.

Andere in ihrer Eigenheit unterstützen

Es gibt Menschen, die sich wundern, wenn jemand sie nicht versteht. Es ist aber eher ein Wunder, wenn man sich versteht. Denn das Normale ist, dass man sich nicht versteht. Die meisten Menschen sagen einem aus Nettigkeit nicht gleich, dass sie etwas nicht verstanden haben. Man denkt bloß, sie hätten verstanden, weil sie so nett sind zu lächeln. Einander zu verstehen ist ein Geschenk des Schicksals, das ist nicht das Normale.

Das zu erkennen, bringt uns in der Individualisierung einen Riesenschritt voran: zu wissen, die Wahrheit verbindet uns alle, sie muss aber individuell gesucht werden. Wenn ich das begreife, kann ich jeden Menschen auf seinem Weg in seiner Eigenständigkeit unterstützen. Das bewirkt das Gegenteil von Abhängigkeit.

Es gibt immer noch sehr viele Menschen, die die Abhängigkeit von anderen Menschen, Drogen, Medikamenten und Dingen dem Schmerz der Individualisierung vorziehen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 1986-1990 eine Statistik erstellt mit folgendem Ergebnis: Wenn die Drogen- und Medikamentenabhängigkeit und sonstige Abhängigkeiten in den nächsten 30 Jahren genauso ansteigen wie in den 30 Jahren vor 1990, also von 1960 an, dann wird im Jahr 2086 jeder zweite Mensch abhängig sein. Eine eindeutige Tendenz in Bezug auf die Abhängigkeit.

Man fragte sich daraufhin überall, was wir tun können, damit diese Vorhersage nicht eintritt. Sie wird eintreten, wenn wir das Mysterium der Individualisierung nicht begreifen. Wenn die Individualisierung nicht gefördert wird, sind Abhängigkeiten eine Folge davon.

Den inneren Weg zu beschreiten, ist immer auch eine Prävention gegen Abhängigkeit. Denn je selbstständiger ein Mensch wird, desto unabhängiger ist er.

Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010