Männliches und weibliches Denken

Gibt es typisch weibliches und typisch männliches Denken?

Was sind die Unterschiede und worauf lassen sie sich zurückführen?

Denken mit den nicht aktiven Reproduktionskräften des anderen Geschlechts

Rudolf Steiner erkannte, dass der Mensch mit den geistig gebliebenen, sich nicht physisch betätigenden Reproduktionskräften (vgl. „Mann und Frau – Unterschiede im körperlichen Bereich“) geistig produktiv und reproduktiv wird. Diese Reproduktionskräfte dienen von vornherein dem Denken. Ohne das Gesetz von der Metamorphose der Wachstumskräfte in Gedankenkräfte (vgl. Wesensglieder: Die Metamorphose der Wesensglieder in leibfreies Denken, Fühlen Und Wollen) zu kennen, kann man den klassischen Unterschied im Seelenleben und Denken von Mann und Frau zwar detailliert beschreiben, nicht aber wirklich verstehen.

Denn die Grunddynamik im Denken der Frau rührt von den körperlich nicht aktiven männlichen Reproduktionskräften her – und umgekehrt. 1

Man halte sich vor Augen, was die männlichen Fortpflanzungsorgane tun: Die Samenzellen werden im Hoden zur Reife gebracht, werden dann ausgestoßen und es werden wieder neue gebildet. Es ist eine große Produktivität vorhanden, die jedoch nicht regelmäßig erfolgt, sondern den äußeren Umständen angepasst ist, d.h., diese Arbeitsleistung ist umweltbezogen. Das ist bei den Fortpflanzungsorganen der Frau nicht der Fall: Unabhängig von den äußeren Umständen entwickelt sich einmal im Monat ein Ei zur vollen Reife heran, während sich die Uterusschleimhaut auf die Einnistung des Eies vorbereitet.

  • So stehen dem Mann für sein Denken die körperlich nicht benützten Kräfte der weiblichen Fortpflanzungsorgane zur Verfügung.

  • Umgekehrt verfügt die Frau geistig über die schöpferische Potenz des Mannes, die dieser physisch verwirklicht hat.

Auf diesem Tatbestand beruhen die klassischen Unterschiede im Denken von Mann und Frau, die in ihrer spezifischen Eigenart – von individuellen Ausprägungen und Lernmöglichkeiten selbstverständlich abgesehen – etwas beleuchtet werden sollen.

Auswirkungen auf das Miteinander

Ein Beispiel: Sie kommt vom Einkaufen und er wundert sich, dass sie Dinge mitbringt, die nicht verabredet waren. Auch schreibt sie nie Einkaufszettel, da sie ja „in etwa“ weiß, was sie besorgen will. Sie hat Freude daran, den Einkauf spontan, umweltoffen und von außen angeregt zu tätigen. Sie hingegen wundert sich, dass er in der Regel exakt nur das besorgt, was er sich vorgenommen hat oder was auf dem Zettel stand, den er sich zu ihrer geheimen Belustigung immer wieder schreibt, um auch nichts zu vergessen.

Ein ähnliches Verhalten liegt auch bei Urlaubsplanungen vor oder bei Problemen, die besprochen werden müssen. So kann es vorkommen, dass die Partner ein bestimmtes Problem im Prinzip zu Ende besprochen und für sich gelöst haben. Er ist dankbar, dass das jetzt ein für alle Mal besprochen und klar ist. Plötzlich kommt sie, vielleicht angeregt von irgendeinem Ereignis, mit einer ganz neuen Idee und möchte das Ganze doch noch einmal von vorne durchsprechen. Er kann das nicht verstehen, weil für ihn die Sache erledigt war, und sie meint, dass neue Gesichtspunkte dazugekommen sind, die sie beim Gespräch neulich noch nicht bedacht hat.

Auch wenn er sich darauf einlässt und wirklich nochmals von vorne beginnt, kann er nie sicher sein, für wie lange das Gesprächsergebnis gültig ist. Oder: Er kommt nach Hause, hat einen anstrengenden Tag hinter sich und freut sich, dass er einen ruhigen Abend genießen kann, während sie darauf erpicht ist, jetzt etwas zu unternehmen. Auch hier prallen unterschiedliche Seelenarten aufeinander, und die Frage ist nicht, wer sich mit seinen Bedürfnissen durchsetzt, sondern ob man die elementare Verschiedenheit und Bedürftigkeit der jeweils andersgeschlechtlichen Konstitution versteht und sie in die eigene Vorgehensweise einbeziehen bzw. sie berücksichtigen kann. Oft hilft auch schon, wenn der andere sich ehrlich wahrgenommen und verstanden fühlt – auch wenn es momentan nicht zu einer Einigung kommt.

Die Andersartigkeit lieben lernen

Männer können lernen sich vorzustellen, dass das, worauf sie im physischen Bereich oft stolz sind – ihre männliche Potenz – genau das ist, was sie an dem „typisch weiblichen Denken“ und dem dadurch geprägten Verhalten manchmal ärgert, manchmal auch erfreut: Spontaneität, Offenheit, das Anregende und die Fähigkeit, sich von allem Möglichen gefangen nehmen zu lassen. Die Frau kann diese enorme seelische Energie auch bündeln und auf bestimmten Punkten beharren, auf die sie – „bohrend“ – immer wieder zurückkommt. Oder etwas muss auf der Stelle geschehen oder besprochen werden. Dieses Nicht-locker-Lassen, bis man das Ziel erreicht hat, ist eine seelische, typisch männliche Kraft, die der Frau konstitutionell gegeben ist. Daher fällt es ihr auch schwerer, schwierige Dinge erst einmal auf sich beruhen oder Urteile reifen zu lassen. Die Fähigkeiten, die sie körperlich besitzt, fehlen ihr bis zu einem gewissen Grad geistig und müssen von ihr bewusst erlernt werden.

Männer haben dagegen ebenfalls geistig zur Verfügung, was ihnen körperlich fehlt: Empfänglichkeit für Anregungen, die Fähigkeit sich abzuschließen, etwas reifen zu lassen, zu warten und bei der Sache bleiben zu können. Damit haben sich gedanklich aber auch die Tendenz zu Enge und Sturheit, können und wollen nicht so ohne weiteres auf Fremdes und Andersartiges eingehen. Für den Mann ist es leichter im Gedanklichen treu zu sein als für die Frau, die dafür im Körperlichen eher treu sein kann.

Das partnerschaftliche Zusammenleben von Mann und Frau wird vor allem dann fruchtbar und schön, wenn beide die Andersartigkeit des Partners nicht nur bejahen und einbeziehen, sondern auch lieben lernen. Dann wird der Mann sich nicht abweisend verhalten, sondern sich geistig anregen lassen und das von ihr Kommende ernst nehmen, es weiterführen und helfen, es zur Reife zu bringen. Umgekehrt wird es der Frau dann leichter fallen, seine ruhigeren und ordnenden Fähigkeiten zu respektieren und sie auf ihre Art für sich selbst zu erwerben.

Bereicherung durch einander ergänzende Qualitäten

Das Sprühende, Anregende, aber auch Unstetere in der Gedankenführung kann eine wunderbare Ergänzung sein zu der Fähigkeit des Mannes, Gedanken ruhig und konsequent ausreifen zu lassen. Deswegen ist es für jedes Gespräch, bei dem um echte Erkenntnis gerungen wird, eine Bereicherung, wenn sich Männer und Frauen daran beteiligen.

Auch wenn im Lauf des Lebens bedingt durch Lernprozesse die individuelle Komponente des Seelenlebens die gattungsmäßige Bedingtheit immer mehr überlagert und verwandelt, bleibt doch eine gewisse Grundfärbung zeitlebens bestehen. Überspitzt könnte man zusammenfassen:

  • Das weibliche Seelenleben ist generell umweltoffener, wahrnehmender, farbiger, phantasievoller und beweglicher. Die seelische Reaktion des Mannes ist verlässlicher, vorhersehbarer, konstanter und zentrierter.

  • SIE hat die Einfälle – ER das Durchhaltevermögen.

  • Und da man sucht, was einem fehlt, findet man oft bei IHR die Sehnsucht, sich aufgehoben, gehalten, gestützt zu fühlen – was ihrer körperlichen Veranlagung ihrer Fortpflanzungsorgane entspricht. Umgekehrt hat ER die Neigung und den Wunsch, aus dem Gewohnten auszubrechen und sich neu anregen zu lassen – wie es seinen Fortpflanzungsorganen entspricht.

Die Erfahrung zeigt, dass keiner von beiden das im anderen findet, was er selber ist. Jedoch kann das Bewusstsein für die persönlichen Eigenheiten gerade am Erleben der Andersartigkeiten des anderen erwachen.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997

  1. Diese Zusammenhänge sind ausführlich wiedergegeben in: Glöckler, M., Die männliche und weibliche Konstitution. Stuttgart, 3. Aufl. 1992.