Vom Sinn der „Lebenslänglichkeit“

Welche Bedeutung haben dauerhafte menschliche Verbindungen?

Wie können sie gelingen?

Ehe als Ausnahme

Die erworbene Immunschwäche HIV/AIDS trug dazu bei, dass Umfragen zunahmen, wie viele Geschlechtspartner die Befragten in wie vielen Jahren hatten, ob sie verheiratet waren oder nicht. Dabei wurde deutlich, dass die ausschließliche eheliche Beziehung im klassischen Sinne eher die Ausnahme darstellt. In die gleiche Richtung weist die Tatsache, dass der Trend zum Ein-Personen-Haushalt ungebrochen anhält. Das sind alles Zeichen einer zunehmenden Unverbindlichkeit – aber auch Individualisierung.

Diese Tendenzen, sowie die häufig auftretende Schwierigkeit, in Ehe und Partnerschaft überhaupt noch einen Sinn zu finden, verdeutlichen, dass die Persönlichkeitsentwicklung – allein und in Gemeinschaft – zu einem zentralen Problem geworden ist. Fragt man Betroffene, warum sie sich trennen, erhält man oft die Antwort, dass sie sich durch den anderen in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit behindert fühlen. Die letztendlichen Ursachen für Trennung sind das Gefühl von Unfreiheit und die Unfähigkeit, an den dafür verantwortlichen äußeren und inneren Ursachen zu arbeiten. So ist es verständlich, dass man heute lieber von „Lebensphasengemeinschaft“ oder vom „Lebensabschnittsgefährten“ spricht und nicht mehr so optimistisch vom Lebensgefährten. Vor diesem Hintergrund stellt sich noch eindringlicher die Frage, welche besondere Bedeutung dauerhafte menschliche Verbindungen hatten und haben.

Vertieftes Lernen in dauerhaften Beziehungen

Eine lebenslange Partnerschaft, die durch dick und dünn geht und bis zum Lebensende anhält, weist Qualitäten auf, die einer vorübergehenden Beziehung fehlen: viele gemeinsame Erinnerungen, Kontinuität, Vertrauen, Begleiten-Können, Krisenfestigkeit, Toleranz, nicht erlahmendes Interesse am anderen, Stabilität, Sicherheit und Treue. So wie man ein Leben lang braucht, um sich selbst zu entwickeln, so brauchen auch Beziehungen eine gewisse Stabilität und Dauer, um als notwendiges Korrektiv und „Spiegel“ für die eigene Entwicklung und die des Partners dienen zu können und um den Erwerb von Charaktereigenschaften zu ermöglichen, die man nur in lebenslanger Zweisamkeit entwickeln kann.

Mit jemanden zusammenzuleben, der einen unterstützt und begleitet, der aber auch den Mut hat, Unangenehmes anzusprechen, ohne Angst haben zu müssen vor Liebesentzug und von dem man sich auch etwas sagen lassen kann, ohne dass einem „ein Zacken aus der Krone bricht“, kann eine große Hilfe auf dem eigenen Weg sein. Daher ist es für Menschen, die keine feste Bindung eingehen, schwerer, ihre innerliche Entwicklung in die Hand zu nehmen und auf ihrem Weg wirklich weiterzukommen. Sehr oft bleiben sie auf einer bestimmten Entwicklungsetappe stehen, weil ihre Beziehungen gerade da enden, wo – im Falle des Zusammenbleibens – die innere Arbeit an der eigenen Veränderung hätte anfangen müssen (vgl. Partnerschaft und Ehe: Konstruktiver Umgang mit dem Scheitern von Beziehungen). So wechselt man eher den Partner, als dass man sich selber ändert.

Es gibt nichts, was man in eine Ehe nicht integrieren könnte, aber es gibt auch nichts, was nicht Anlass sein könnte, sich wieder zu trennen. Letztlich hängt alles davon ab, wie groß das Interesse am anderen wirklich ist. In dem Augenblick, in dem es Gründe gibt auseinanderzugehen, ist oft zu spüren, wie Eigeninteressen das Interesse am anderen zu überwiegen beginnen. Diese Eigeninteressen sind es letztlich, die die Menschen auseinandertreiben, und die – wenn wir es von der positiven Seite nehmen – die Entwicklung zur Selbständigkeit fördern. Dass das notwendig ist, liegt auf der Hand. Denn letztlich ist man erst dann für eine Dauerbeziehung geeignet, wenn man auch alleine leben könnte. Daher gehen Beziehungen leicht zu Bruch, in denen ein Partner, oder beide, noch auf der Suche nach sich selber sind und sich auf Zeit mit dem anderen wie einem „Ersatz-Ich“ identifizieren.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997