Entstehung und Verwandlung des Wortes Religion
Was ist heutzutage die Aufgabe der Religion?
Interpretationen des Wortes Religion im Laufe der Geschichte
Das Wort Religion hat sich im Zusammenhang mit dem christlichen Kulturkreis eingebürgert. Religion (vom Lateinischen: religio) ist seit der römischen Antike bekannt und hat seither sehr unterschiedliche Interpretationen erfahren. 1
So stand es in der Antike für die genaue Erfüllung von Pflichten.
Bei Cicero wird es für das „gewissenhafte Bedenken und Beachten dessen, was die Götter wollen" verwendet.
Im 4. Jh. n. Chr. benützte es Laktanz zur Beschreibung der Fessel der Frömmigkeit, durch die wir Gott verpflichtet und verbunden (religati) sind.
So wird es dann auch von Augustin verwendet, indem er sagt: „Streben wir zu dem einen Gott und bemühen uns, ihm allein ... unsere Seelen zu verbinden (religantes animas nostras)." In seiner Schrift „De vera religione“ verwendet er das Wort religio auch für die Eröffnung des Weges, auf dem Gott verehrt und in reinster Frömmigkeit als Grund aller Wesen erkannt wird. Damit ist für ihn religio auch eins mit der Philosophie als dem Streben nach Weisheit. Das Wort Religion steht auch für Kultus und sittliche Lebensbewältigung.
Im Mittelalter heißt religio vor allem „Orden" im Sinne der Ordnung des religiösen Lebens der Mönche.
Thomas von Aquin fügt in seiner theologischen Summa noch hinzu: „Ad religionem proprie pertinet sacrificium deo offere" (zum Ordensleben gehört es, Gott Opfer darzubringen).
Bei Luther lesen wir: „An Christus glauben und von Liebe gegen die Armen angeregt zu werden, das ist unsere christliche Religion. Wenn das Kreuz hinzukommt, so ist es die absolute christliche Religion."
Mit Beginn der Neuzeit wird zunehmend die Vereinbarkeit von Glauben und Wissen in Frage gestellt. Umso stärker wird die Erfüllung moralisch-sittlicher Pflichten in den Vordergrund gerückt und als die Aufgabe der Religion angesehen.
Zur Zeit der Aufklärung wird der Religionsbegriff auf die Verbindung von Vernunft und Moral gestützt, wobei der Name Lessing hier genannt sein möge für die Bedeutung einer umfassenden Toleranz, die der Religionsbegriff beinhalten muss, der Menschenverständnis fördern und für die Menschheit als Ganzes gelten soll.2
Für Herder ist Religion „überall zum Rat, Trost, Unterricht und, wenn ich sagen darf, zur äußersten Notwehr der Menschen erschaffen. Denn sie war's allein, die den armen, schwachen Sterblichen über das Unsichtbare, Allmächtige, Allwirkende, ja über das Zukünftige sogar in seiner dunkelsten Form belehren, trösten und ruhig machen wollte."
Erst bei Schiller taucht das Freiheitsmotiv in Bezug auf die Religion auf. Im Gegensatz zu Kant, für den Religion aufgrund strenger Gesetze („das moralische Gesetz in mir“) moralische Pflichterfüllung ist, betont er, dass die Religion der Weg zur Menschwerdung sei, den der Mensch jedoch nicht dem Pflichtgebot folgend beschreitet, sondern aus einer freien, inneren Neigung heraus.
Novalis greift das Freiheitsmotiv dergestalt auf, dass Religion zur Grundlage seines Wissenschaftsverständnisses wird und Moral, ethische Poesie, Kritik und Historie umfasst und mit allen anderen Wissenschaftszweigen in unmittelbarer Beziehung steht.
Ludwig Feuerbach reduziert dann Religion auf das Verhalten des Menschen zu sich selbst im Sinne eines Weges zur Selbsterkenntnis.
Karl Marx hingegen sieht Religion nur noch als Macht- und Manipulationsmittel für die Unmündigen an. Religion ist für ihn dem Selbstverständnis des Menschen geschuldet, „der sich entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat".
Diese Beispiele zeigen, in wie starkem Maß der jeweilige Religionsbegriff den Wandel der Bewusstseinsgeschichte des Menschen abbildet. Er führt von der Gotteserkenntnis zur Menschenerkenntnis, von der Erfüllung göttlicher Gebote und Gesetze zu dem Bestreben, sich von der Abhängigkeit von Gott zu lösen, um Freiheit zu üben und sich ausschließlich auf die Kräfte der eigenen Persönlichkeit berufen zu können.
Lehre, religiöse Übung und Kultus
Das religiöse Leben gliedert sich in die drei Bereiche: Lehre, religiöse Übung sowie Teilnahme am Kultus und Empfang der Sakramente.
Bei der Lehre geht es darum, das Verhältnis von Mensch, Welt und Gott lebensalter- und situationsgemäß darzustellen, d.h. das Sinnlich-Materielle und die Welt der Gedanken und des Geistes in ihrem Verhältnis zueinander so zu schildern, dass das Kind, der Jugendliche und der erwachsene Mensch erleben, dass ihre eigene innere (seelisch-geistige) und äußere (sinnlich-sichtbare) Natur dem entsprechen. Denn im Menschen durchdringen sich die geistige und die sinnliche Welt. Die reine Beobachtung sinnlich wahrnehmbarer Naturerscheinungen und die Gedanken, die sich Menschen darüber machen, klaffen dagegen weit auseinander. So hat jedes Religionsbekenntnis seine eigenen Wege zum Verständnis des Geistes in der Welt durch die davon kündende Lehre, die zwar den Zugang zur Religion eröffnet, jedoch nicht das eigentlich Religiöse ist. Das eigentlich Religiöse beginnt mit der Übung, mit dem, was von der Lehre in die Tat umgesetzt wird.
Grundlegendes zum heutigen Religionsbegriff
Im 20. Jahrhundert, infolge der mit den beiden Weltkriegen verbundenen Ereignisse und der damit verbundenen Globalisierung, haben sich öffentlich und privat zwei Maximen durchgesetzt:
Die Akzeptanz, dass jeder Mensch auf religiösem Gebiet frei sein muss, seinem Gewissen zu folgen.
Die in der Menschenrechtsdeklaration der UNO (1948) und in den Grundgesetzen vieler Staaten zum Ausdruck gebrachte religiöse Toleranz, dass jeder nicht nur im Stillen seine Religion wählen darf, sondern auch das Recht hat, seine religiöse Überzeugung in Gemeinschaft mit anderen in der Öffentlichkeit, also durch „Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten“ zu bekunden.
Dabei stehen den etwa 1,5 Milliarden Christen etwa 1,2 Milliarden Atheisten gegenüber. Muslime sind in der Weltbevölkerung mit einer knappen Milliarde vertreten, Hindus mit etwa 700 Millionen und Buddhisten mit weniger als 500 Millionen. Alle anderen großen Religionen haben Gemeinschaften zwischen wenigen Millionen (z.B. Konfuzianer) und 200 Millionen (Taoisten). Im Sinne der drei genannten Elemente gehört jedoch der Atheismus ebenfalls zu den Religionen. Er leugnet zwar aktiv eine göttliche Offenbarung, setzt aber an deren Stelle den neuesten Stand der Wissenschaft und stellt damit auch die Wahrheits- und Machtfrage, die Kern jeder Religion ist.
Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997
- Die folgenden Zitate sind entnommen aus: Karlfried Gründer; Joachim Ritter (HG), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt 1971-2007, Bd. 8.
- G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: Ges. Werke. Berlin, Weimar 1975.