Formen spiritueller Gemeinschaftsbildung

Was ist das Besondere einer spirituellen Gemeinschaftsbildung durch den Kultus?

Was ist unter dem „umgekehrten Kultus“ zu verstehen?

Zunächst gibt es die Gemeinschaft der Priester, die sich durch Schulung und Ausbildung vorbereitet und die Priesterweihe empfangen haben, damit sie in der Lage sind, eine überpersönliche Gemeinschaft zu bilden, die zur Pflege des Kultus nötig ist. Auch wenn der einzelne Priester Schwächen hat und in seiner moralischen Entwicklung hinter so manchem Gemeindemitglied zurücksteht, so kann er doch gemeinsam mit den anderen mit besten Kräften daran arbeiten, dass der Kultus in der Priestergemeinschaft am Leben bleibt.

Zugang zum kultischen Geschehen offen halten

Das ist notwendig, damit das kultische Geschehen für jeden Menschen in freier Weise zugänglich ist. Denn jeder, der am kultischen Geschehen teilnimmt, ist völlig frei, wie tief, wie oberflächlich, wie esoterisch, wie unverbindlich, wie nur ganz aus der Ferne er sich dem Geschehen nähern und anschließen möchte. Es kann sogar sein, dass jemand zufällig die Straße entlangkommt und das Schild „Die Christengemeinschaft“ sieht und sich spontan entschließt, den Raum zu betreten, in dem wenig später die Menschenweihehandlung beginnen soll (vgl. Religion: Die Bedeutung kultischen Geschehens). Nun sitzt er da – ohne jede Vorbereitung. Demokratischer und freilassender geht es nicht. Diese Möglichkeit ist wie eine Art Gegengewicht zur absoluten Verbindlichkeit, mit der die Priesterschaft diesen Kultus trägt, verantwortet und pflegt.

Damit wird die Möglichkeit der Menschenweihe durch den Kultus an alle, die am kultischen Geschehen teilnehmen, herangetragen und es hängt nun vom Einzelnen ab, wie sehr er sich diesem Geschehen öffnen und von ihm verwandeln und Schritt für Schritt „weihen" lassen kann. Gemeinsam am Kultus teilzunehmen und innerhalb der Gemeinde voneinander zu wissen, dass man diesen Weg der Verwandlung und der Menschenweihe anstrebt, hat etwas tief Vertrauenerweckendes und Verbindendes. Und so unverbindlich die Teilnahme zu Beginn auch sein mag, im Laufe der Zeit kann sich die Beziehung zum kultischen Geschehen vertiefen und sich schließlich dahingehend entwickeln, dass der Betreffende immer mehr zum Mitvollzieher und Mitarbeiter dessen wird, was am Altar geschieht.

Von oben gestiftete Gemeinschaft

Wir haben hier eine Form spiritueller Gemeinschaftsbildung, die gleichsam „von oben" gestiftet wird. Denn ein Kultus ist eine unmittelbare Offenbarung aus der geistigen Welt und muss von Menschen, die sich dafür vorbereitet haben, entsprechend empfangen und gepflegt werden. Daher hat eine solche Gemeinschaftsbildung auch eine hierarchische Form, mit dem Priester an der Spitze und der sich um ihn gruppierenden Gemeinde. Dabei bedeutet dieses An-der-Spitze-Stehen nur, dass man dem Priester verdankt, dass der Kultus für die Gemeinde zelebriert werden kann. Weiter geht die Autorität des Priesters nicht, es sei denn, er hätte auf irgendeinem Gebiet eine besondere Qualifikation, so dass man ihn zu Rate zieht in der gleichen Weise, wie man dies auch mit anderen Menschen tut, die sich für irgendeinen Lebensbereich qualifiziert haben.

Je mehr in der Gemeinde erlebt wird, dass es der Kultus selbst ist, von dem die Kraft der Gemeinschaftsbildung ausgeht, und nicht der eine oder andere verehrte Mensch dahintersteht, umso mehr bekommt eine solche Gemeinde den Charakter einer echten spirituellen Gemeinschaft, zu der jeder sein Bestes beiträgt – brüderlich, unabhängig von der Hierarchie. Je hingebungsvoller und selbstloser der Kultus gepflegt und gefeiert wird, umso stärker sind die spirituellen Kräfte, die von ihm ausgehen können.

Wunderbare Brotvermehrung

Das wirkt sich auf den Umkreis wie eine wunderbare Brotvermehrung aus. Denn Gedanken und Gefühle sind Realitäten (vgl. Gedankenkraft: Vernetzte Gedanken), und je kraftvoller das Kultusgeschehen in der Seele jedes Einzelnen auflebt, umso kraftvoller ist dann auch das, was geistig von der Kirche ausströmen kann, wenn der Kultus in ihr gefeiert wird. Nicht nur diejenigen, die daran teilnehmen, haben etwas von dieser geistigen Nahrung, sondern weitaus mehr Menschen werden damit erreicht, auch wenn sie davon gar nichts wissen und nicht ahnen, woher ihnen in einer bestimmten Situation plötzlich ein so friedevoller, hilfreicher Gedanke gekommen ist. Kultuspflege bedeutet geistige Substanzbildung, Friedensarbeit, Arbeit an der Vermenschlichung der Lebensverhältnisse einer Stadt, der Gegend, in der die Gemeinde wirksam ist (vgl. Gedankenkraft: Ätheraura der Erde kräftigen).

Umgekehrter Kultus

Rudolf Steiner beschreibt auch den „umgekehrten Kultus", die spirituelle Gemeinschaftsbildung „von unten" (vgl. Gemeinschaft(sbildung): Einleitendes zum Thema Gemeinschaft). Sie wird in dem Maße möglich, in dem eine Gruppe von Menschen sich in gemeinsamer Arbeit um Geisterkenntnis bemüht und dieses Bemühen gesegnet wird durch die Anwesenheit geistiger Wesen. Rudolf Steiner sagt hierzu: „Erst dann stehen wir wirklich im Ergreifen, im Erfassen des Spirituellen drinnen, wenn wir nicht nur die Idee dieses Spirituellen abstrakt haben und etwa sie theoretisch wiedergeben können [...], sondern wenn wir glauben können – aber glauben auf Grundlage eines beweisenden Glaubens –, dass Geister im geistigen Erfassen geistige Gemeinschaft mit uns haben“. 1

Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben im Hinblick auf das soziale Leben der Gegenwart, konkrete Wege zur spirituellen Gemeinschaftsbildung kennenzulernen und zu beschreiten.

Vgl. „Wie ist Entwicklung zur Selbständigkeit und Gemeinschaftsbildung vereinbar?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997

  1. Rudolf Steiner, Anthroposophische Gemeinschaftsbildung, GA 257, Vortrag vom 27.2.1923.