Religion und Wille

Inwiefern ist besonders der Wille mit allem Religiösen verbunden?

Alles Religiöse ist eng verbunden mit Erziehung, Selbsterziehung und moralischer Entwicklung. Denn es geht in erster Linie um die Erweckung des menschlichen Willens im Umgang mit der Welt und anderen Menschen (vgl. Wille(nsschulung): Sieben Wege zur Effektivität).

Der Weg vom Wissen zur Könnerschaft

Beim Erwerb von Fähigkeiten – egal, ob Leib, Seele oder Geist betreffend – müssen Widerstände überwunden werden, muss geübt und wiederholt werden. Oft meint das Denken, längst verstanden zu haben, worum es geht, und auch vom Gefühl her hat man keine Lust mehr weiterzumachen. Dann kann der Wille den entscheidenden Impuls zum Durchhalten geben, bis man eine Fähigkeit zu wirklichem Können entwickelt hat. Denn selbst wenn man ein Musikstück schon auswendig kann, heißt das noch lange nicht, dass man es auch schon so spielen kann, wie es dem Werk gebührt. Zwischen dem bloßen Wissen, wie etwas geht, bis zur wahren Könnerschaft liegt ein langer Weg.

Das trifft auch auf das Neue Testament zu: Was hier an reinem Wissen gelernt werden kann, ist gar nicht so viel, ist nicht das Entscheidende: Entscheidend ist, dass derjenige, der Zugang zu den Evangelien sucht, darauf achtet, wie mittels der dargestellten Inhalte (Gleichnisse, Bilder, Gespräche, Taten) an seinen Willen appelliert wird.

Selbst zu solchen Szenen und Gleichnissen, die dem intellektuellen Verständnis schwer zugänglich sind und die erst einer komplizierten Auslegung bedürfen – wie die Verwandlung von Wasser in Wein bei der Hochzeit zu Kana – haben der Wille und das ihm naheliegende, nicht vollwache, mehr träumende Gefühlsleben einen direkten Zugang: Der Leser kann empfinden, dass hier etwas in das soziale Geschehen bei der Hochzeit so eingreift, dass die versammelten Menschen sich gestärkt und erfrischt fühlen – es kommt zum unmittelbaren Erleben, dass Christus die Macht der Substanzverwandlung besitzt (vgl. Religion: Das Geheimnis von Verdauung und Transsubstantiation).

Appell der Friedfertigkeit an den Willen

Besonders eindrücklich sind jedoch Stellen wie die Aufforderungen im Matthäus-Evangelium, die sich direkt an den Willen wenden: „Wenn du deine Gabe zum Altar bringst und dich daran erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen, gehe zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, dann komm und bringe deine Gabe." 1

Aufforderungen wie diese machen deutlich, dass man ein guter Mensch werden muss, wenn man mit vollem Bewusstsein die Welt des Unbewussten betreten will.

Die Handlungen am Altar sprechen von der unbewussten Welt des Willens. Wer Zwist und Streit Nacht für Nacht mit in den Schlaf nimmt, kann von der Welt des Sozialen, in der auch Gottes Boten, die Engel, wirken, nicht so aufgenommen werden wie ein Mensch, der Zwist und Streit beigelegt und sich so auf diese Welt vorbereitet hat.

Geheimnis des Willens – das Tun

Hier stoßen wir auf das Geheimnis des Willens: Wer nicht Frieden schließt, kann auch keinen Frieden erleben. Jedem geschieht in gerechter Weise nach seinem Wollen. Daher sind auch die meisten religiösen Anweisungen darauf ausgerichtet, uns zu helfen, den Tag so zu verbringen, dass wir nachts richtig schlafen und die Stoffwechselvorgänge sich in gesundender Weise vollziehen können.

Dementsprechend war in alten Zeiten die Religion auch für Medizin und Gesundheit zuständig. Ratschläge in Bezug auf die Lebensführung, die Hygiene, die richtigen Ernte- und Aussaatzeiten, gute Ernährungsgewohnheiten und vieles mehr gehörten in den Bereich des Tempels und seiner Priester und Lehrer. Andererseits hatte die Religion in den alten Zeiten auch eine ganz andere Beziehung zu Kunst und Wissenschaft, als dies heute der Fall ist:

  • Das höchste Ideal der Wissenschaft war, zur Gotteserkenntnis und damit zur Erkenntnis des Guten im Sein, Handeln und Wollen aufzusteigen.

  • Über die Kunst versuchte man, diesem Bestreben zu dienen und es in der Tempelarchitektur durch entsprechend gestaltete Räume und die Gestaltung der heiligen Gegenstände, Gefäße, Gerätschaften und Götterstandbilder für die Augen der Menschen sichtbar zu machen.

Religion ist eine Willensangelegenheit. Hier kommt es darauf an, das Gute und Schöne zu tun, auch wenn die Umstände dagegensprechen.

Positive Auseinandersetzung mit dem Schatten

Wer bewusst mit Idealen umgeht, weiß, wie wichtig es ist, sich auch mit dem Gegenteil der Ideale, dem Schattenwurf, den Hindernissen, positiv auseinanderzusetzen. Die Notwendigkeit, den guten Willen immer neu zu entfachen, ist letztlich das, worauf es in der religiösen Praxis ankommt – und genau das lieben Kinder: Denn sie selbst müssen auch noch vieles lernen und sind ständig mit dem Erlebnis ihres noch-nicht-Genügens und ihrer Unfähigkeit konfrontiert, so dass sie diesen guten Willen selbst ständig aufbringen müssen. Sie fühlen sich tief verstanden, wenn sie erleben, dass auch der Erwachsene Fehler macht, um sich und den anderen dann wieder eine Chance zu geben – dass er neu beginnt, um es besser zu machen: Religiöse Übung und Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins können sich so gegenseitig unterstützen.

Religiöse Erziehung bedeutet Willenserziehung: Jede wiederholt durchgeführte Willenshandlung stärkt den Willen, und je regelmäßiger das geschieht, umso größer wird die Kraft (vgl. Wille(nsschulung): Motivation und Willenserziehung).

Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997

  1. Neues Testament, Matthäus 5, 23-24, zitiert nach Emil Bock.