Wie wir vergeben unsern Schuldigern

Warum gibt es im Vaterunser die Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“?

Bitte um Stärkung der Vaterkraft

Hinter dieser Bitte steht das Anliegen des Christus, die Vaterkraft, aus der wir stammen, in uns so stark zu machen, dass wir nicht in Versuchung geraten, Angst zu haben und das Böse zu tun. Gebet bedeutet ja, dass man etwas hereinbittet in die Seele, was noch nicht da ist. Dieser esoterische, überkonfessionelle Entwicklungsweg, das Ich bzw. den Geist im Menschen stärken zu wollen, ist mit jeder Religion kompatibel (vgl. Religion: Zukünftige Aufgaben der Religion). Denn in jeder Religion wird gebetet, um etwas Höheres in die Seele hereinzurufen.

Ich habe mich im Zusammenhang mit dem Vaterunser angesichts der vielen dort geäußerten Bitten oft gefragt, was wir Menschen im Gegenzug denn zu tun bereit sind. Diese Bitten klingen, als wollten wir nur „konsumieren“: Der Vater soll uns alles geben – vom Brot bis zur Erlösung...

Unser notwendiges Versprechen im Vaterunser

An einer Stelle jedoch versprechen wir etwas, was mir von immenser Bedeutung erscheint. Denn die Worte – „…wie wir vergeben unseren Schuldigern“ – sind das Tor, durch das der Vater erst Hilfe schicken kann (vgl. Das Böse – Widersachermächte: Das Böse verzeihen): Indem wir all denen, die uns etwas schulden, die uns ärgern, die uns beleidigen, die uns etwas Gutes tun müssten, vergeben und im Gegenzug nichts von ihnen erwarten, entwickeln wir ein eigenständiges Verhältnis zum Bösen und fangen an, SEINE Mission auf der Erde zu verstehen. Dann beginnen wir auch zu verstehen, warum der Christus auf Erden litt: Er wollte das Böse aus tiefstem Gerechtigkeitsempfinden heraus am eigenen Leib erleben, weil er es seinen Geschöpfen, den Menschen, zugemutet hat. Er hätte uns auf Erden auch auf andere Art das Ich verleihen können, ohne selbst durch Folter und Martyrium gehen zu müssen.

Er hat diesen Weg jedoch freiwillig gewählt, um den bitteren Kelch, den wir alle mehr oder weniger trinken, vollbewusst selbst zu kosten – und er leerte ihn, indem er am Kreuz bat: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Christus gewährte dadurch totale Vergebung, wissend, dass kein Mensch vollbewusst Böses tut. Menschen tun Böses nur aus ihrem Erdenbewusstsein heraus mit allem, was ihnen zur Verfügung steht, weil sie von der göttlichen Welt abgeschnitten sind. Das sollten wir verstehen, weil wir alle selbst auch an der Überwindung unseres Abgeschnitten-Seins arbeiten – was uns alle zu Brüdern und Schwestern macht.

Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013