Einsame Schicksalswanderung

Wie hängen Einmaligkeit und Einsamkeit zusammen?

Einmaligkeit macht einsam

Unser Schicksal macht uns zur einmaligen Individualität. Es ist der intimste und heiligste Bezirk eines jeden Menschen. Im Schicksalserleben sind wir allein – keiner ist und empfindet genauso wie wir. Christian Morgenstern (1871 – 1914) sagt so treffend: „Die zur Wahrheit wandern, wandern allein…“1 Auf dieser Wanderung sind wir auf uns selbst gestellt und werden nur von unserer Gewissensstimme geleitet (vgl. Konfliktfähigkeit: Die Gewissensstimme).

Diese Veranlagung zur Eigenständigkeit hat aber auch eine Schattenseite. Denn der Freiheitswille macht uns „sozial schwierig“: Wir grenzen uns ab, wir entziehen uns anderen oder überwältigen sie mit unserer Durchsetzungskraft. Dadurch verletzen oder schädigen wir sie, meist ohne dies zu bemerken. Daher hat das Schicksalsgesetz auch eine schmerz¬hafte Konsequenz: Wir erleben in einem späteren Erdenleben die Folgen unserer Taten an anderen Menschen und unserer Umwelt am eigenen Leib und in der eigenen Seele. Dadurch ist die Chance gegeben, dass sich nicht nur die Freiheitsfähigkeit entwickelt, sondern auch die soziale Seite der Ich-Kompetenz: Mitleid, Empathie und Liebesfähigkeit.

Zweifaches Geheimnis der Freiheitsentwicklung

Im neuen Testament wird das Geheimnis dieser beiden Seiten der Freiheitsentwicklung durch das Erdenschicksal u.a. in folgenden Worten zum Ausdruck gebracht:

„Denket nicht, ich sei gekommen, Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bringe nicht den Frieden, sondern das Schwert. Ich bin gekommen, um den Menschen zu trennen von seinem Vater und die Tochter von ihrer Mutter und die Braut von der Mutter des Gatten. (…) wer den Vater und die Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig. (…) und wer nicht bereit ist, sein Kreuz zu tragen und mir nachzufolgen, der ist nicht würdig meines Ichs.“2

Hier spricht sich klar der Weg zur Selbständigkeit aus, sich zu finden in der Geistverwandtschaft mit dem höheren Ich. Dann aber ist im selben Evangelium zu lesen, dass wir unsere Feinde lieben sollen, denen wohltun, die uns hassen, die segnen, die uns fluchen, für die beten, die uns beleidigen.3 Die Bergpredigt offenbart die andere Seite der Entwicklung zur Freiheit: Keiner muss reagieren – das alte Karma-Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ gehört der Vergangenheit an. Das neue Schicksalsprinzip, eigene und fremde Schuld zu verstehen, zu verzeihen und zu erlösen, wird wirksam durch die Kraft des höheren Ich, die allen Menschen gemeinsam ist. Sie kann sich am besten entwickeln, wenn man sie im sozialen Leben übt als die Kraft selbstloser Hingabe an die Sorgen und Nöte der Welt, in der man lebt – als die Kraft geistiger Liebe.

Die Gewissensstimme

Novalis hat dies in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen in Form eines Gesprächs über das menschliche Gewissen zwischen dem Arzt Sylvester und Heinrich zum Ausdruck gebracht.4 Heinrich fragt: ‚Wann wird es doch gar keiner Schrecken, keiner Schmerzen, keiner Not und keines Übels mehr im Weltall bedürfen?‘

‚Wenn es nur e i n e Kraft gibt – die Kraft des Gewissens. Wenn die Natur züchtig und sittlich geworden ist. Es gibt nur e i n e Ursache des Übels – die allgemeine Schwäche, und diese Schwäche ist nichts als geringe sittliche Empfänglichkeit und Mangel an Reiz der Freiheit.‘

Was Novalis hier als Gewissen beschreibt, ist die Qualität einer Geistesgegenwart, die uns befähigt, in jeder Lebenslage das Hilfreiche, Befreiende zu tun. In Steiners Die Philosophie der Freiheit wird diese Fähigkeit moralische Intuition genannt,5 d.h. das Handeln aus dem Ich heraus und nicht mehr aus Sympathie oder Antipathie (Astralleib), Konvention, Gewohnheit oder Sitte (Ätherleib) bzw. aus den Bedürfnissen des physischen Leibes heraus.

Vgl. Vom Sinn der … Krankheiten, in: Meditation in der Anthroposophischen Medizin, 1. Kap., Berlin 2016

  1. Christian Morgenstern, Wir fanden einen Pfad, Basel: Zbinden Verlag. 5. Aufl. 2004.
  2. Neues Testament, Matthäus 10,34.
  3. Neues Testament, Matthäus 5,1–7,29.
  4. Novalis (Friedrich von Hardenberg), Heinrich von Ofterdingen, Verlag Der Morgen, Berlin 1986.
  5. Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1995, S. 191 ff.