Ich-Erleben und Schicksalsgestaltung

Wie leben die Folgen meiner Taten in mir befreundeten oder verfeindeten Menschen weiter?

Hat meine berufliche Arbeit Spuren im sozialen Leben hinterlassen, die eventuell Generationen überdauern?

Gibt es eine Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen auch in Punkten, in denen ich, vielleicht ohne es zu ahnen, schuldig geworden bin?

Darf ich wirklich alles erkennen, was mit meinem Selbst und seiner Wirkung in der Welt verbunden ist?

Ist nicht gerade die Schattenseite meines Lebens der Teil, der zu besonders tiefgründigen Lernprozessen Anlass gibt und damit neue Fähigkeiten und Begabungen hervorruft (vgl. Schicksal und Karma: Konsequenzen von Handlungen und Lebensgewohnheiten für den weiteren Verlauf des Schicksals)?

Sich selbst wie einem Fremden gegenüberstehen

Eine solche Betrachtung kann bewusst machen, dass es zwei Arten von Ich-Erfahrung oder Identitätserleben gibt. Die erste entsteht im Licht- und Schattendasein des täglichen Lebens, die andere dadurch, dass ich mich diesem Licht- und Schattendasein gegenüberstellen und als relativ unabhängig davon erleben kann. Rudolf Steiner spricht öfter davon – z.B. in seinem Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“,1 dass man lernen kann, sich selbst wie einem Fremden gegenüberzutreten und sich so objektiv und ruhig von außen wahrzunehmen und zu erkennen, wie man einen anderen Menschen wahrnimmt und erkennt.

Wer über das menschliche Ich und sein Schicksal in dieser Weise nachzudenken beginnt, kommt früher oder später an einen kritischen Punkt: Er erlebt das Vorläufige der eigenen Existenz und des Gebrauches des Wortes „ich“. Er erfährt seine Identität als noch nicht abgeschlossen, sondern nach der Zukunft hin wie offen. Er empfindet, dass er erst anfängt zu verstehen, wer er wirklich ist, und bemerkt die Tatsache des Unaufhörlich-in-Entwicklung-Seins. Er schaut zurück in eine Vergangenheit, aus der er kommt, und voraus in eine Zukunft, in die er geht. Er erlebt, wie die Gegenwart bestimmt wird von den Zielen, die er sich für seine Entwicklung steckt, und von den Idealen, die er zu verwirklichen bestrebt ist.

Inneres Bild des Entwicklungszieles

Dabei können ihm Gedanken kommen, wie sie Solschenizyn in seinem Buch „Im ersten Kreis der Hölle“2 den Maler aussprechen lässt, der seinem erstaunten Besucher ein Bild zeigt, auf dem dieser die fliederfarbene Burg des heiligen Grals sieht, im Goldglanze der untergehenden Sonne. Der Maler sagt zu ihm, dass in jedem Menschen unbewusst ein Bild seines Entwicklungszieles, seiner Vollkommenheit, ruht und in bedeutenden Augenblicken des Lebens plötzlich vor das innere Auge treten kann. So wäre es Parzival ergangen, als er ganz unerwartet zum ersten Mal die fliederfarbene Burg des heiligen Grals erblickte und in diesem Augenblick wusste, dass sie es war, die er immer gesucht hatte.

So wie das Bild dessen, was wir infolge unserer Entwicklung einmal werden können, für uns schon jetzt als Idealbild im eigenen Innern aufleuchten kann voll Hoffnung, Zuversicht und Gewissheit, so bleiben wir auch mit dem Licht und den Schatten unserer Vergangenheit verbunden, bis wir all das, was wir nicht so tun konnten, wie wir es eigentlich gerne getan hätten, erkannt, gelernt und geordnet haben. Ein solches Erleben sich selbst gegenüber bringt aber auch die Gewissheit mit sich, dass wir als Menschen nicht nur einmal leben,3 sondern so oft wiederkehren, bis das Ziel erreicht ist – ja nicht nur das: dass wir so oft wiederkehren, bis die Menschheit als Ganze ihr Entwicklungsziel erreicht hat – ein Ziel, das zu erreichen jeder jedem helfen kann.

Darauf kann dieses kleine Wörtchen „ich“ hinweisen. Denn wenn jeder zu sich „ich“ sagt – dann muss in dieser Ich-Natur des Menschen auch etwas von dem leben, zu dem jeder Mensch auch „ich“ sagen kann: ein reales „Menschheits-Ich“, eine allen Menschen gemeinsame Ichhaftigkeit (vgl. Identität und Ich: Identifikation und Schicksal). Es gehört zu den Besonderheiten der deutschen Sprache, dass die Initialen von Jesus Christus J.CH. bedeuten, der von sich sagt, dass er in jedem Menschen anwesend sein möchte, wenn dieser es will. Er ist das Wesen, das sich mit der Menschheit so identifiziert, wie es der einzelne Mensch in möglicher Nachfolge Christi mit sich selbst und seinem Schicksal tun kann.

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 2. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004

  1. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1993.
  2. Alexander Solschenizyn, Im ersten Kreis der Hölle. Frankfurt 1985.
  3. Vgl. Emil Bock, Wiederholte Erdenleben. Stuttgart, Neuaufl. 1997.