Macht im Schicksalszusammenhang

Welche Macht haben wir über eigenes und anderes Schicksal?

Welche Aufgaben haben wir als bewusste Menschen in diesem Zusammenhang?

Macht über eigenes und fremdes Schicksal

Jeder Mensch hat seinen eigenen Schicksalsumkreis, jeder ist einmal Mittelpunkt seines eigenen Schicksals und dann wieder für viele Menschen ein Teil von deren Schicksalsumfeld. Wem diese Tatsache einmal in voller Deutlichkeit zu Bewusstsein gekommen ist, der wird sein Leben grundlegend anders zu führen beginnen und wird damit einen Schulungsweg beschreiten, der eine besondere Form der Selbsterziehung ermöglicht. Man wird nicht nur bemerken, sondern auch akzeptieren, welchen Einfluss und damit auch welche Macht dieser Schicksalsumkreis, der zunächst ist, wie er ist, über einen hat, und man wird sich umgekehrt auch bewusstwerden, welchen Einfluss und welche Macht man selbst auf diesen Umreis ausüben kann, je nachdem, wie man sich dazu stellt.

Wer sich mit der Frage beschäftigt, was und wie wir vom Schicksal lernen, wird schnell erkennen, dass das Schicksal im juristischen Sinne nicht gerecht ist – denn es behandelt jeden anders.

Das eigene Schicksal verantworten

Im Zusammenhang mit Schicksalsfragen ist es notwendig einzusehen, dass das eigene Schicksal wirklich zu einem gehört, was bedeutet, dass jeder Mensch im eigenen Schicksalsumkreis die zu ihm passenden Entwicklungsbedingungen vorfindet und gestaltet. Das einzusehen, gerade wenn man Ärger oder Probleme mit einem anderen Menschen hat, fällt nicht leicht. Es gibt aber auch Menschen, die auf diesem Weg schon weit vorangeschritten sind und diese Problematik handhaben können. So beschreibt Bernard Lievegoed in seiner Biographie, wie er als Vierzehnjähriger einmal sehr erstaunt darüber war, dass sein Vater, der Verleger einer großen Zeitung, einen Mitarbeiter, mit dem er Schwierigkeiten hatte, nicht einfach entließ. Auf die Frage des Jungen, warum er es nicht tue, wo er doch der „Chef“ sei, antwortete der Vater: „Solange ich mich noch über ihn ärgere, kann ich ihn nicht entlassen.“1 Für den Jungen war das eine der wichtigsten Lehren für sein späteres Leben.

Es geht darum, das Schicksal ernst zu nehmen und zu akzeptieren, dass es einem nicht nur Schönes bietet, sondern mithilfe von schwierigen Erfahrungen zur Selbsterkenntnis verhelfen möchte.

Denn wie will man lernen, mit Angst, Hass, Neid, Eifersucht in sich selbst umzugehen, ja überhaupt zu bemerken, dass man diese hässlichen Eigenschaften besitzt, wenn man keinem Menschen begegnet, der diese Seiten in einem wecken kann und so zum Anlass wird, sie beherrschen zu lernen?

Unser Schicksal meint es immer gut mit uns

Wenn Goethe von sich bekennt, dass er zwar alle schlechten Eigenschaften, zu denen der Mensch fähig ist, der Anlage nach auch bei sich selbst entdeckt habe, bis auf eine, den Neid, so kann man angesichts dieser Tatsache mit Recht fragen:

Wen hätte Goethe auch beneiden sollen?

Vielleicht hat er auch die Veranlagung zum Neid, fand jedoch niemanden in seinem Schicksalsumkreis, der sie hätte wecken und ihm damit zu Bewusstsein bringen können.

Zum Schwierigsten im Leben gehört, zu akzeptieren, dass auch das Böse und Hässliche im Schicksal nie lebensfeindlich, sondern immer lebensfreundlich gemeint ist (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Wirklichkeit und Notwendigkeit des Bösen). Es möchte uns Menschen wachmachen für etwas, es fordert uns auf, uns angesichts einer bestimmten Situation etwas klarzumachen, von dem man vielleicht im Augenblick noch nicht weiß, wozu man es brauchen wird, von dem man aber in späterer Zeit, möglicherweise auch erst in einem anderen Leben, Gebrauch machen kann, um vielleicht eine sehr wichtige Aufgabe zu vollbringen.

Rudolf Steiner hat diese Gesetzmäßigkeit des Schicksals einmal so zusammengefasst:

„Freuden sind Geschenke des Schicksals,
die ihren Wert in der Gegenwart erweisen. ,
Leiden dagegen sind Quellen der Erkenntnis, ,
deren Bedeutung sich in der Zukunft zeigt.“ 2 ,

Probleme als Hinweise auf Lernaufgaben

In diesem Zusammenhang ist es interessant, zu sehen, was geschieht, wenn man einem Problem ausweichen möchte. Wenn man es z.B. in einem bestimmten Lebens- oder Arbeitszusammenhang mit einem Menschen zu tun hat, der sehr dominierend ist, in dessen Nähe man sich nicht recht entfalten kann und man daraufhin die Stelle wechselt, kann es sein, dass sich nach einiger Zeit dort eine ganz ähnliche oder sogar eine schlimmere Konstellation entwickelt. Wieder steht man vor dem Problem, wie man mit einem dominanten Menschen fertig wird, bzw. wie man lernen kann, sich in seiner Nähe zu entwickeln.

Vielleicht ist seine Funktion als „Konkurrenz“ oder als derjenige, der vieles tut, was man selber lieber anders, „besser“ oder gar nicht getan hätte, nur vordergründiger Art?

Vielleicht ist er für mich ein Hinweis, dass ganz andere Aufgaben auf mich warten und ich es nur nicht merke, weil ich mich so über diesen Menschen ärgere?

Beobachtungen und Fragen dieser Art können die Lebensstimmung und -haltung in einer solchen Situation grundlegend verändern. Sie machen bewusst, dass es von allem zu lernen gilt, wenn sich die Lebensverhältnisse zum Positiven hin entwickeln sollen. Natürlich können die Überlegungen auch dahin führen, dass man für sich die Notwendigkeit der Auseinandersetzung als Aufgabe erkennt, und man sich gegen die dominante Persönlichkeit zu wehren beginnt, um den Freiraum zu schaffen, den man braucht.

Im Spannungsfeld von Individualität und Schicksalsumkreis

Es gibt immer zwei Möglichkeiten, konstruktiv in dieses Spannungsverhältnis zwischen Individualität und Schicksalsumkreis einzugreifen und die Entwicklungschancen, die durch das entsprechende Verhältnis gegeben sind, wahrzunehmen:

  • Zum einen hat man die Möglichkeit, „sich nicht mehr zu ärgern“, das heißt seine Einstellung zu dem aufgetauchten Problem oder Menschen so weit zu ändern, dass man damit gut leben kann. Selbst Schüler sind dazu schon in der Lage. Man kann gelegentlich hören: „Ich habe es aufgegeben, mich noch über den zu ärgern.“

  • Zum anderen gibt es die Möglichkeit, von seiner Freiheit als Individuum Gebrauch zu machen und zu kämpfen oder wegzugehen, wenn es unzumutbar wird. Auch diese äußere Veränderung eröffnet neue Entwicklungsmöglichkeiten, die man dem Problem verdankt.

Entwicklung kann nur stattfinden, wenn äußere bzw. innere Veränderungen gelingen. Und hierzu fordern die vielfältigen Schicksalserfahrungen unablässig auf.

Entwicklung im Spannungsfeld von Individualität und Gemeinschaft ist eine Aufgabe. Sie besteht hauptsächlich darin, anzuerkennen, dass wir viele soziale Schwierigkeiten vermeiden bzw. lindern können, wenn wir in der Lage sind, vom Schicksal zu lernen und uns nicht mehr dagegen auflehnen oder resignieren. Sind wir zu diesem permanenten Lernen bereit, zeigt sich, dass der Schicksalsumkreis zum Spiegel wird: Jeder Mensch, mit dem wir es zu tun haben, alle Dinge und Vorgänge können uns in der Begegnung etwas zu Bewusstsein bringen, was zu uns gehört – ja, was wir selber sind. Wir lernen uns selbst in dem Maße kennen, in dem wir die Menschen und Vorgänge in unserem Umkreis wirklich kennenlernen und uns mit ihnen bewusst auseinandersetzen.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 7. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997

  1. Bernard Lievegoed, Durch das Nadelöhr. Stuttgart, 3. Aufl. 1994.
  2. Rudolf Steiner, Wahrspruchworte. Dornach, 8. Aufl. 1998.