Ein gesundes Selbstbewusstsein erwerben

Was macht ein gesundes Selbstbewusstsein aus?

Wie kommt unser Ich-Bewusstsein zustande?

Das Ergreifen des Ich in drei Schritten

Unser Ich-Bewusstsein entspricht einem Punkt. Wenn es uns nicht gelingt, uns zu fokussieren, uns zu konzentrieren, sodass wir schließlich ganz bei uns sind, sind wir nicht wirklich „da“. Das ist der eine Aspekt.

Das andere hat mit der Fülle unserer Gedanken und Bestrebungen zu tun, mit dem, was wir tun wollen und oft nicht können, weil uns dies oder jenes behindert – aber auch mit den bereits genannten komplexen Lebensverhältnissen. Dazu gehört alles, was um mich herum ist, mein Umfeld: Das Wesentliche ist, dass die Welt, in der ich lebe, in mir einen Bezugspunkt findet, der mir die Möglichkeit gibt, mich in Beziehung zu setzen, ohne mich dabei zu verlieren (vgl. Entwicklung: Vom Punktbewusstsein zu peripherer Kompetenz).

Ist es nicht ein Wunder, wie stark das Selbstbewusstsein ist?

So stark, dass wir uns in der Fülle unserer Gedanken, Meinungen und Bewegungen nicht verlieren?

  • 1. Selbstbewusstsein durch den physischen Leib

Das Wissen um uns selbst ist ein Geschenk des physischen Leibes, denn an ihm erwacht das Selbstbewusstsein (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des physischen Leibes). In den Gesetzmäßigkeiten des physischen Leibes ist die ganze Weltweisheit zusammengefasst, bis dahin, dass ich mein Gleichgewicht finde und meinen Schwerpunkt. Aus diesem Schwerpunkt heraus bildet sich wiederum mein geistiger Schwerpunkt, die Möglichkeit, mich selbst in einem Punkt zu fassen.

  • 2. Schicksalsumkreis und Ich-Bewusstsein

Nun zum zweiten Schritt der Ich-Bewusstseinsbildung, der mit unserem Schicksal zusammenhängt. Rudolf Steiner schreibt zur Knüpfung von Schicksalsbanden im Vorgeburtlichen:

„Eine Seele, die sich anschickt verkörpert zu werden, weiß zum Beispiel, dass sie zu ihrem nächsten Erdenleben eine gewisse Art von Erziehung braucht, eine gewisse Art von Kenntnissen, die sie aufnehmen muss, schon in früher, früher Jugend. Aber sie sieht, da oder dort kann ich die Möglichkeit finden, eine solche Erziehung zu bekommen. – Aber das ist oftmals nur möglich, wenn man in der Kindheit verzichtet auf ein solches Elternpaar, das einem ein glückliches Dasein in anderer Beziehung geben könnte, und wenn man seine Zuflucht nimmt zu einem Elternpaar, das einem vielleicht kein glückliches Leben gewähren kann. Würde man ein anderes Elternpaar vorziehen, so würde man sich sagen müssen: Gerade das Wichtigste kannst du nicht erreichen. – Man darf nicht alle Verhältnisse des geistigen Lebens sich so verschieden vorstellen von denen auf der Erde. So sieht man Seelen, die vor der Geburt in furchtbarsten Kampfe sind, sieht zum Beispiel eine Seele, die sich sagt: Ich werde vielleicht in meiner Jugend misshandelt von einem rohen Elternpaar. Wenn eine solche Seele in dieser Lage kommt, dann gibt das furchtbare innere Kämpfe für sie. Und man sieht in der geistigen Welt vielen Seelen an, die an die Vorbereitung für die Geburt schreiten, wie sie sich diese ungeheuren Kämpfe bereiten. Dazu muss man nehmen, dass man in der geistigen Welt diese Kämpfe etwa wie eine Art von Außenwelt vor sich hat. In der geistigen Welt ist das, was ich jetzt schilderte, nicht nur innerer Seelenkampf, nicht nur Kampf des Gemütes, sondern diese Kämpfe projizieren sich nach außen, und man hat sie sozusagen um sich. Man sieht in aller bildlichen Anschaulichkeit die Imaginationen, die einem anschaulich machen, wie diese Seelen innerlich gespalten zu ihrer nächsten Inkarnation schreiten müssen."1

Hier gibt uns Rudolf Steiner ein Beispiel für den Vorblick auf das neue Erdenleben aus der Sicht der Ungeborenen, die sich vorbereiten auf ihre Inkarnation.

Tragische Auswirkungen der vorgeburtlichen Diagnostik

Früher war es möglich, dass man sich über eine lange Zeit hinweg ein bestimmtes Elternpaar, eine bestimmte Erdgegend, eine bestimmte Generationenfolge suchte. Heute ist das gar nicht mehr so einfach. Die vorgeburtliche Diagnostik hat u.a. zur Folge, dass jährlich hunderttausende von Mädchen an vielen Orten der Erde von Ärzten schlicht ermordet werden. Man wünscht als Familie höchstens ein Kind, und das muss ein Junge sein, doch kein Mädchen, eine halbe Portion! Ein Vollmensch soll es sein, ein starker! Diese Seelen müssen sich jetzt anders orientieren.

Die vorgeburtliche Sphäre ist zu einem Kampfplatz geworden durch die besondere Art, wie wir die Vorgeburtlichkeit medizinisch und auch sonst behandeln: Unendliches Leid entsteht durch das ständige Zurückgewiesen-Werden. Zusätzlich gibt es den Kampf, den Rudolf Steiner in der obigen Passage schildert: Man muss sich zwischen einem glücklichen Familienleben oder einer glücklichen Erziehungskonstellation und einem schrecklichen Familienleben entscheiden. Wenn man Glück hat, hat man beides, aber wer hat schon dieses Glück. Das widerfährt nur einer Elite.

Der Schicksalsumkreis des Menschen

Das Schicksal kann als Kreis um den Ich-Punkt dargestellt werden (vgl. Schicksal und Karma: Ich-Erleben und Schicksalsgestaltung). Wir sind ständig mit unserem Schicksal im Gespräch – das Schicksal ist unser Partner: Es ist die Sphäre, mit der wir uns verständigen müssen, mit der wir unausgesetzt im Dialog sind. Und je mehr wir uns mit unserem Schicksal verständigen können über den Sinn, das Positive, das, was wir lernen können, gerade auch in ganz schwierigen Schicksalsumständen, desto besser geht es unserem Ich-Bewusstsein. Es gibt ein wunderschönes Wort von Angelus Silesius aus der mittelalterlichen Mystik:

„Ich weiß nicht, wer ich bin.
Ich weiß nicht, was ich weiß.
Ich bin ein seltsam Ding,
ein Pünktchen und ein Kreis.“2

Diese Worte enthalten eine tiefe Lebensweisheit: Zur Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins aus Ich-Punkt und Schicksalsumkreis gehört das Gewahr-Werden meiner selbst am Kreis und die Fähigkeit zum Dialog mit meinem Schicksal, das Erkennen der Entwicklungschance, die ich durch mein Schicksal habe. Es geht darum, diese beiden Aspekte kreativ und unternehmerisch miteinander so in Verbindung zu bringen, dass eine Entwicklungsspur entsteht, die zu verfolgen sich lohnt im Rahmen dieser Biografie.

  • 3. Unser wahres Wesen, die Persona, das Ich

Jetzt kommt noch eine dritte Komponente dazu: die Persona, unser wahres Wesen (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit), das hindurchtönt durch den Leib, die Seele und die Art, wie ich denke, fühle und handle. Man spricht von der Ausstrahlung des Menschen. Dieses Durchstrahlende ist vollkommen frei von aller Bindung an den physischen Leib und an die Schicksalsumstände. Dem Astralleib, dem Ätherleib und dem physischen Leib schreibt sich alles ein, was wir an Gutem und Schwierigem getan haben: Unsere Leiber sind das Briefpapier, auf das wir schreiben, oder der Malblock, auf den wir zeichnen. Unser Ich dagegen hat den Sündenfall nicht mitgemacht, es ist rein und frei von Schuld, ist unschuldig im besten Sinn des Wortes. Es ist, wie es im Evangelium heißt, „der Weg, die Wahrheit, das Leben“3. Es ist reine Liebe, reines Licht.

Alle Tugenden, auch die männlichen Tugenden der Tatkraft, des Mutes, der Kraft, der Klarheit und der Orientierung, sind Ausdrucksformen des Ich, das weder männlich noch weiblich ist. Das Ich kann durch einen männlichen Körper andere persönliche Eigenschaften entwickeln und ausstrahlen als durch einen weiblichen Körper, andere in China als in Peru. Das hängt sehr stark auch davon ab, was einem der Umkreis zu tun gestattet. Vieles an Möglichkeiten nimmt man mit ins Grab, weil man sie gar nicht realisieren konnte: Es gab keine entsprechenden Fragen, keinen Partner, keine Schicksalsresonanz. Dann bleibt man mit manchen Themen allein und spart sie auf für ein späteres Leben. Zurückhaltung und Ausstrahlung sind die beiden Seiten der Ich-Kultur.

Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012

  1. Rudolf Steiner, Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. GA 140, 4. Aufl. 1990, Seite 354-355.
  2. Angelus Silesius, Der Cherubinische Wandersmann. U.a. Zürich 1979. Erstes Buch, Geistreiche Sinn- und Schlussreime, Nr. 5.
  3. Neues Testament, Johannes 14, 6.