Sexualität und Identität

Welchen Erziehungsauftrag haben Pädagogen und Bildungseinrichtungen in Bezug auf die Sexualität?

Welche Rolle spielt Sexualität im Kontext der Entwicklung des jungen Menschen?

Ist die Sexualität Schicksalssache?

Für Kinder und Jugendliche ist es eine entscheidende Entwicklungsaufgabe, sich mit ihrem Körper zu identifizieren. Dabei spielen das eigene Geschlecht und die Sexualität eine wichtige Rolle. Großen Einfluss haben dabei aber auch maskuline und feminine Rollenmuster und Vorbilder im Umkreis der Jugendlichen sowie die Debatten und Auftritte in den sozialen Netzwerken und Medien.

Stärkung der Ich-Kompetenz als Erziehungsziel

Bevor ich näher auf die Thematik eingehe, möchte ich betonen, dass alle menschliche Entwicklung in der Ich-Kompetenz gipfelt, d.h. im Menschsein und nicht im Mann- oder Frausein. So wichtig eine gute Kohärenz mit dem eigenen Körper und Geschlecht ist, so hilfreich ist es auch, wenn dieses als Teil der menschlichen Identität angesehen wird und nicht als dominanter Bestandteil.

Letztlich gilt dies ja auch für alle anderen „Erbschaften“, die man in sein Leben und seine Identität zu integrieren hat: Familienzugehörigkeit, Hautfarbe, Religion oder Atheismus, sozialer Status, Sprache, Nationalität, Begabungen, Behinderungen und vieles mehr. Lebensglück und Lebenszufriedenheit und nicht zuletzt das körperliche und seelische Gesundheitsgefühl hängen davon ab, wie frei man sich dem allen gegenüber in seinem innersten Persönlichkeitskern empfindet. Ob diese „Erbschaften“ Instrumente sind für die eigene Schicksalsgestaltung oder Faktoren, von denen man abhängig ist, mit denen man hadert oder sonst in irgendeiner Form von Zwiespalt lebt. Ziel der Waldorfpädagogik ist es, das zentral Menschliche zu stärken und die Heranwachsenden im umfassendsten Sinne bei der eigenen Identitätsbildung zu unterstützen.

Aus Sicht wiederholter Erdenleben

Wenn man den Wiederverkörperungsgedanken in die Thematik Sexualität und Identität miteinbezieht, eröffnen sich zusätzliche Perspektiven. Aus Rudolf Steiners Forschung zu Fragen der Reinkarnation geht hervor, dass normalerweise eine männliche und eine weibliche Inkarnation miteinander abwechseln. Selbstverständlich gibt es auch hier immer wieder Ausnahmen, auch was die Häufigkeit der Wiederverkörperungen anbetrifft. Grundsätzlich gilt die Regel, dass man sich dann wiederverkörpert, wenn sich die geschichtlichen Umstände so stark geändert haben, dass man wieder ganz neue Dinge lernen kann. Der Materialismus wirkt sich jedoch so aus, dass sehr viele Menschen sich zu Lebzeiten kein Wissen über ihre geistige Identität nach dem Tod, kein „geistiges Selbstbewusstsein“ erwerben (können), weswegen sie im Nachtodlichen quasi schlafen.1 Dadurch aber – so Steiner – entwickeln sie eine große Sehnsucht, sich baldmöglichst wiederzuverkörpern, um bei einer nächsten Inkarnation auf der Erde durch entsprechende Umstände ebendieses Geistbewusstsein zu entwickeln. In diesem Phänomen sah Steiner einen der Hauptgründe für das exponentielle Wachstum der Erdbevölkerung.2 Wer dagegen einen reichen Entwicklungsertrag aus seinem Erdenleben mit in die geistige Welt nimmt, kann zwischen dem Tod und einer neuen Geburt dieses Erdenleben im Zusammenwirken mit göttlich-geistigen Wesen bewusst verarbeiten. Er kann zudem auf die Lebenden, mit denen er verbunden war, inspirierend wirken und ihnen aus der geistigen Welt bei ihren Aufgaben und Tätigkeiten helfen. In solchen Fällen ist das Intervall zwischen zwei Verkörperungen wesentlich größer. Wir können als Pädagogen nicht wissen, wie es in dieser Hinsicht um das uns anvertraute Kind bestellt ist. In der Waldorfpädagogik zählt deshalb immer nur die Frage:

Wie kann ich dem Individuum bestmöglich helfen, sich so zu finden, wie es seinem Schicksal entspricht?

Vgl. Michaela Glöckler, Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung. Erfahrungen und Perspektiven aus der Waldorfpädagogik für die Erziehung im 21. Jahrhundert, Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2020

  1. 1 Vgl. Rudolf Steiner: Vierter Vortrag. Dornach, 2. Februar 1915. In: Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung. GA 161. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1999, S. 81 f.
  2. 2 Vgl. Rudolf Steiner: Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse. GA 209, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1982, S. 41 f.