Aufklärung in der Schule
Welche Rolle spielt Aufklärung in der Schule?
Wann ist der richtige Zeitpunkt dafür?
Welche pädagogischen Überlegungen stehen dahinter?
In der Schule ist es wichtig, Fragen der Aufklärung1 nicht nur im Rahmen der Biologie zu behandeln, da die Sexualität etwas so Allgemeinmenschliches und Omnipräsentes ist. Ihre biologischen, seelischen und sozialen Aspekte sind derart vielschichtig, dass sie nicht in einem einzelnen Fachgebiet abgehandelt werden können, sondern im Kontext von Blutkreislauf, Atmung, Ernährung, Sinnespflege, Jugendhygiene und Drogenmissbrauch durchgenommen werden sollten, vorbereitend für den Sexualkundeunterricht.
Im Grunde muss die ganze Art und Weise, wie der Unterricht gestaltet wird, aufklärend auf die SchülerInnen wirken. In der Art, wie Vorgänge des Lebens kommentiert werden, wie mit Männern und Frauen und mit den Jugendlichen umgegangen wird – all dies klärt im besten Sinne des Wortes auf, sensibilisiert, weckt Vertrauen und schafft die Grundlage, um dann auch individuelle – meist heikle – Fragen auf diesem Gebiet anzusprechen.
Frage des richtigen Zeitpunktes
Anfang der siebten Klasse mag vor Jahren noch angemessen gewesen sein. Heute sind die SiebtklässlerInnen nicht unbedingt körperlich weiterentwickelt, der Großteil von ihnen wurde jedoch bereits über Jahre seitens der Musik- und Filmindustrie mit einer Flut an sexuellen Eindrücken und Themen konfrontiert, ganz abgesehen von dem wachsenden Pornokonsum, der vor allem bei den Jungen gang und gäbe ist. So empfiehlt es sich, zur ausgleichenden Einflussnahme das Thema Sexualität in der Schule bereits in der 6. Klasse durchzunehmen.2 Oder aber es situativ aufzugreifen, sobald man den Eindruck hat, dass es in einer Klasse virulent wird.
Wichtig ist jedoch, die Eltern zu informieren und so weit wie möglich in den Prozess mit einzubeziehen. Gut ist auch, wenn sie rechtzeitig vor einer solchen Aufklärungsepoche Bescheid wissen und ihren Kindern die Thematik schon vorher in der vertrauten Umgebung vorbereitend nahebringen können.
Die Epoche selbst hat das Ziel, das männliche und weibliche Element in den Naturreichen aufzusuchen und Übereinstimmungen wie auch Unterschiede zum Menschen herauszufinden. Dem folgt die Beschreibung der Geschlechtsorgane und ihrer Funktion, wozu auch die Menstruation gehört, und zum Schluss wird besprochen, wie Kinder gezeugt werden und es zu einer Schwangerschaft kommt. Hier geht es grundsätzlich darum, Achtung nicht nur für das eigene, sondern vor allem auch für das andere Geschlecht zu entwickeln.
Die nähere Beschäftigung mit der Entwicklung des ungeborenen Kindes vor der Geburt soll bei den Kindern ein Gefühl von Ehrfurcht und Respekt wecken, das sie staunen lässt über das Wunder, dass der sieben Wochen alte Embryo bei einer Größe von nur zwei Zentimetern bereits Augen, Ohren, Darm, Nieren, Leber, Lungen, Mund und Nasenlöcher besitzt.
Möglichkeit geben anonyme Fragen zu stellen
Im Laufe dieser Epoche werden bei Vielen Fragen aufkommen und zunehmend auf der Zunge brennen, die Betreffenden werden aber kaum wagen sie offen zu stellen, weder in der Familie noch in der Schule. Deshalb finde ich die Idee eines Waldorflehrers, einen „Briefkasten“ in der Klasse anzubringen, in den die SchülerInnen ihre Fragen täglich einwerfen konnten, eine geniale Lösung. Sie brauchen die Möglichkeit zu fragen, um den Umgang mit der Sexualität für sich klarer zu bekommen. Anonym gestellt konnte der Lehrer die Fragen im Laufe des Unterrichts nach und nach aufgreifen und die meisten auch beantworten.3
Auch in der Oberstufe leben Fragen, die die Jugendlichen lieber „nebenbei“ ansprechen und im Unterricht nie zu stellen wagen würden. In den Jahren meiner schulärztlichen Tätigkeit hatte ich zum Beispiel einmal einen 17-Jährigen neben mir, als ich über den Schulhof lief. Im Gehen fragte er mich, ohne mich anzuschauen: „Frau Glöckler, ist es normal, wenn man mit 17 noch keinen Sex hatte?“ Ich erwiderte knapp: „Das ist ganz normal!“ Und weg war er. Ihm genügte das, heute haben die Kinder aber meist mehr Gesprächsbedarf zu der Thematik.
Sex und Liebe
Es geht darum, bei den Heranwachsenden ein Verständnis dafür zu wecken, dass Liebe dann eine positive Kraft ist, wenn der andere Mensch dabei die Hauptperson ist, dass sie jedoch ins Negative gekehrt wird und zerstörend wirken kann, wenn die eigenen Interessen dabei im Vordergrund stehen und der andere für die eigene Befriedigung instrumentalisiert bzw. benützt wird. Insofern ist der sexuelle Umgang miteinander immer auch eine Gewissensfrage. Die körperliche Anziehung ist das eine – wie man sich als Mensch dabei erlebt, wie man miteinander über das Erlebte spricht, das andere. Erst durch solch echtes Begegnen im Gespräch und im Gedankenaustausch entsteht eine umfassende Liebesbeziehung. So kann auch der Unterschied zwischen geistiger und körperlicher Liebe erlebt und verstanden werden, und dass diese Hand in Hand gehen müssen, damit der Mensch Sex als tief beglückend empfinden kann.
Als Grundregel sollte beim Sexualkundeunterricht stets beachtet werden, dass keine/r der SchülerInnen individuell angesprochen oder bloßgestellt wird, dass aber auch die Stellung der Lehrperson in den Augen der Kinder nicht gefährdet werden darf. So sollte sie nie über eigene Erfahrungen oder Gefühle sprechen.
Es wäre schön, wenn den Jugendlichen aus dieser Hauptunterrichtsepoche zwei Schlüsselbegriffe im Gedächtnis bleiben: Respekt und Liebe.
Vgl. Michaela Glöckler, Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung. Erfahrungen und Perspektiven aus der Waldorfpädagogik für die Erziehung im 21. Jahrhundert, Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2020
- Vgl. Jeanne Meijs, Liebe und Sexualität im Kindes- und Jugendalter, Urachhaus.
- Vgl. Hrsg. Andreas Neider, Liebe und Sexualität: Ihre Entwicklung und Gefährdung von der Kindheit bis ins Jugendalter, Deutscher Waldorfbund.
Waldorf-Ideen-Pool, Schule: Sexualkunde - Aufklärung in der 6. Klasse