Aufgabe der Sinne

Welche Aufgabe haben die Sinne aus geisteswissenschaftlicher Sicht?

In seiner Schrift „Anthroposophie, ein Fragment“1 ist zu lesen: „In anthroposophischer Beleuchtung darf alles dasjenige ein menschlicher Sinn genannt werden, was den Menschen dazu veranlasst, das Dasein eines Gegenstandes, Wesens oder Vorganges so anzuerkennen, dass er dieses Dasein in die physische Welt zu versetzen berechtigt ist.“

Sinne als Schwelle zwischen physisch und geistig

Diese Worte Rudolf Steiners besagen, dass es um das Dasein, um das Wesen, um Vorgänge in der sinnlichen, der physischen Welt geht (vgl. Sinne(spflege): Grundlegendes zum Tastsinn). Die Sinne sind gleichsam die Schwelle für das Ich, an der es zwischen der Sinneswelt und der Geisteswelt steht und an der es ganz klar unterscheiden lernt zwischen dem, was der physischen Welt und dem, was dem Seelisch-Geistigen angehört. Das heißt, die Sinnesorgane geben dem Ich die Möglichkeit, die Schwelle zur geistigen Welt als Schwelle überhaupt erst zu realisieren. Das muss so deutlich gesagt werden, weil unser Erleben als solches geistig-seelischer Natur ist:

  • Unsere Gedanken sind reine ätherische Kraft, sind übersinnlich. Noch kein Mensch – auch nicht der raffinierteste Sinnesphysiologe – konnte einen Gedanken sinnlich sichtbar machen.

  • Auch unsere Gefühle sind nicht sinnlicher Natur. Man behauptet ja, sie werden im Nervensystem, im limbischen System, durch Hormone und das, was die Hormone mit den Nerven machen, erzeugt. Das lässt sich jedoch nicht zeigen.

Sinne als Werkzeuge der Verortung im Physischen

Einzig die Sinne sagen uns Menschen, ob eine Erfahrung in dieser Welt stattfindet oder ob wir uns im Übersinnlichen befinden. Sie sind die Organe, durch die dem Kind im Laufe von Wachstum und Reifung klar wird: Ich bin auf der Erde, ich bin nicht mehr in der geistigen Welt. In den ersten Lebensjahren wächst das Kind langsam aus der vorgeburtlichen Welt heraus und lernt die Dinge, Wesen und Vorgänge, die es eigentlich in sich erlebt, als in der physischen Welt befindlich zu erkennen (vgl. Erziehung: Erziehung mit Bezug auf die Wesensglieder). Alle kleinen Kinder sind hellsichtig, sie können nur nicht darüber sprechen. Aber man merkt es, wenn man sie beobachtet.

Die Möglichkeit, Mensch zu werden, ein Wesen zu sein, das lernt sich selbst zu erkennen, sich selbst zu bestimmen und sich selbst zu entwickeln, verdanken wir der Sinneswelt, die uns dazu zwingt, Abstand zu nehmen vom Geist. Der Materialismus – hoch sei er gepriesen! – schneidet uns vom spontanen Wissen um den Geist ab. Die Sinne helfen uns, uns in dieser Welt der Objekte zu verorten und uns als verletzliches physisches Werkzeug zu erleben, das vergessen hat, dass es einen geistigen Ursprung hat (vgl. Die ersten drei Jahre: Gehen - Sprechen – Denken: Angst in den ersten drei Lebensjahren).

Geistige Erfahrung im Sinnlichen

Die Anthroposophie stützt sich auf die Sinnesfelder und ihre Erlebnisformen, um aufzuzeigen, dass wir es hier mit Realitäten, mit geistiger Erfahrung im Sinnlichen, zu tun haben – weswegen Rudolf Steiner die Sinneslehre das erste Kapitel der Anthroposophie nennt. Auf diesem Gebiet zeigt sich die Interpretationsschwäche des Materialismus in seiner „geistigen Dummheit“ besonders deutlich. Der Materialismus als Weltanschauung ist zwar sehr gut dafür geeignet, die in der physischen Welt stattfindende Destruktivität, Manipulation, aber auch Ursachen und Wirkmechanismen von Abhängigkeiten in einem sehr eng gesteckten Rahmen genau zu erforschen. Da gibt es nichts Besseres. Aber in dem Moment, in dem man etwas in einem größeren Zusammenhang verstehen will, kommt diese Weltanschauung sehr schnell an ihre Grenzen. Insofern kann uns die Vertiefung in die anthroposophische Sinneslehre als Werkzeug dienen, als Hebel für die eigene Erfahrung, die wir zur Annäherung an die geistige Realität brauchen.

Alle Sinne sind reine Ich- und damit Willenstätigkeit. Die Sinnessphäre ist die wache Ich-Sphäre (vgl. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung: Ich-kompetenz und Selbsterkenntnis):

  • Ich nehme das Ich des anderen wahr.
  • Ich nehme die Gedanken des anderen wahr.
  • Ich nehme die Worte, die Ausdrucksweisen, die Körpersprache eines anderen Menschen wahr. Ich höre, ich sehe und erlebe Wärme usw.
  • Ich, ich, ich…

Doch sind neben der Sinneserfahrung noch andere Interpretations- und Gedankenformen vonnöten sind, damit man sich als Individuum überhaupt in dieser Welt, nicht nur physisch, sondern auch seelisch und geistig beheimaten kann.

Denken als Sinn für Geistiges

In der geistigen Welt sind wir getragen von und geborgen in den Hierarchien. Wir leben zwischen Tod und Geburt ein Leben ohne Selbstverantwortung. Wir sind in der Verantwortungssphäre der höheren Hierarchien und können nur in dem Maß an der Vorbereitung unserer nächsten Biographie mitgestalten, in dem wir uns im letzten und im vorletzten Leben befähigt haben, die Hierarchien wahrzunehmen und uns ihnen erlebend gegenüberzustellen. Dazu müssen wir geistige Sinne für geistige Wesen entwickelt haben.

Der schlichteste Sinn für Geistiges ist unser Denken (vgl. Denken: Denken als Brücke zwischen der Sinneswelt und der Welt des Geistigen), denn es ist bereits ein geistiges Tastorgan. Ein guter Gedanke beglückt mich, weil er mein Ich als geistige Wirklichkeit berührt (vgl. Ideale: Die besondere Natur der Ideale). Gedanken sind wie sensible Zelloberflächen gegenüber der geistigen Welt. Das Ätherische (des Gedankenlebens) ist die Berührfläche zu dem, was sich geistig bis ins Ätherische herein offenbaren kann als Vision, als Imagination.

Ein Sinn offenbart uns geisteswissenschaftlich gesehen den Geist von außen (vgl. Geist und geistiges Wesen: Geisterkenntnis und Freiheit): Die ganze Schöpfung, die Taten Gottes, der Hierarchien, der Elementarwesen, sehen wir dank der Sinne von der materiellen Außenseite her. Und wenn ich den Sinnen vertrauen gelernt habe und mein Verstand mich wach erhält, kann ich erkennen, dass das, was seelisch-geistig in mir lebt und das, was mir über die Sinne von außen sichtbar wird, ein und dasselbe ist. Welterkenntnis wird zu Selbsterkenntnis vgl. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung: Notwendigkeit von Selbsterkenntnis). Selbsterkenntnis wird zu Welterkenntnis.

Sinnesschulung aus anthroposophischer Sicht

Sinnesschulung unter dem definitorischen Diktum, was in anthroposophischer Beleuchtung ein Sinn ist, würde bedeuten, dass wir folgenden Gang antreten: vom Ich über die Seele (Astralleib) (vgl. Wesensglieder: Grundlegendes zum Thema Wesensglieder) über das Leben (Ätherleib) zum Sinn (physischer Leib) und dadurch in die Begegnung mit etwas Sinnlichem: mit Farbe, Form, Klang, Geschmack, Geruch. Wir können ja sämtliche Sinne an der Farbe, am Ton etc. aktivieren. Das möchte ich am Beispiel des Tastens ausführen:

Was ertaste ich, bis ich zu der scheinbar materiellen Außenwelt komme?

Über Farbe und Licht wird etwas offenbar, was mit der Seele Verwandtschaft hat. Im Johannes-Prolog heißt es sinngemäß: Wenn sich das Ich inkarniert, kommt es in sein Eigentum. Das Licht scheint in die Finsternis – in die Sinnlichkeit – und wenn es aufgenommen wird von dieser Sinnlichkeit, dann kann das Geistige, das sich in Licht, Farbe und Form im materiellen Dasein schaffend offenbart, sich wieder mit dem Seelisch-Geistigen im Menschen vereinigen. Der Mensch kann an der Außenwelt das Seeleninnere erkennen und kann mit dem so geweckten Seeleninneren dem Außen mit mehr Dankbarkeit, Freude, Respekt und Wachheit u.a.m. begegnen.

Vgl. Vortrag „Tastsinn und Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 7. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung

  1. Rudolf Steiner, Anthroposophie – ein Fragment, GA 45, II. Der Mensch als Sinnesorganismus, S.31.