Ringen des Ich um Selbstlosigkeit

Warum ist das Ringen um Selbstlosigkeit so wichtig?

Wie und wodurch kann es gelingen?

Mikrokosmos des Ich begegnet über die Sinne dem Makrokosmos der Welt

Einzig in unserem Ich haben wir Menschen die Selbstlosigkeit noch nicht errungen. Warum nicht? Weil der Christus selbst zwar dieses Ich-Opfer der Selbstlosigkeit gebracht hat (vgl. Christus heute: Christusopfer und Wesensglieder), es für jeden einzelnen aber erst wie „in Kraft tritt“, wenn sich jeder einzelne von uns selbst auch übend darum bemüht. Das ist das einzige Opfer, von dem wir nicht zwangsläufig bzw. konstitutionell etwas haben. Ob wir eigensüchtig bleiben wollen oder nicht, ist einzig und allein unsere Entscheidung.

Über die zwölf Sinne, die Rudolf Steiner so sorgfältig differenziert und charakterisiert (vgl. Sinne(spflege): Zwölf Sinnestätigkeiten – Sinnespflege), kann unser um Selbstlosigkeit ringendes Ich an zwölf Orten das selbstlose Zusammenwirken von Leib und Umwelt erleben. Das Ich steht an der Schwelle und erkennt, wie Selbst und Welt zusammenhängen. Und: Es ist in diesen zwölf Sinnessphären zugegen, wenn Leib und Welt sich begegnen, und erkennt: Wir sind von derselben Wesenheit. Ich bin der Mikrokosmos, du bist der Makrokosmos. Jedes Sinnesorgan ist ein Ort, an dem das Ich sich durch die Sinnestätigkeit seiner selbst und der Beschaffenheit der Welt innewerden kann (vgl. Sinne(spflege): Zwölf Qualitäten der Selbsterfahrung). Es lernt zu unterscheiden: Das ist das Selbst, das ist die Welt; das ist innerhalb von mir, das ist außerhalb. Es lernt aber auch die beiden zusammenzubringen.

Jede Sinneserfahrung ist interpretationsbedürftig

Im Folgenden ein Beispiel, um zu zeigen, wie komplex dieses Geschehen ist: Mein Finger berührt diese Kante und gibt meinem Ich, meinem reinen Willen, so die Gelegenheit, die-sen Berührungsakt in unterschiedlicher Hinsicht zu begreifen: In der Berührung findet eine Begegnung zwischen meiner Hautbegrenzung und der Holzoberfläche statt, „…sodass ich mich als Ich erleben kann, unterscheidend mein Eigenwesen…“ und dass mir gegenüber offensichtlich ein anderes Wesen ist. Darüber hinaus erfahre ich etwas über die jeweilige Oberfläche, die ich berühre.

Doch nicht der Sinn selbst gibt mir die Botschaft, ob etwas weich, trocken, hart, spitzig oder stumpf ist – nein: Ich erlebe unterschiedlich geformte Grenzen und mache mir selbst klar, was das bedeutet. Deswegen sind die Tast-Endorgane nicht spezifisch mit einem Erlebnis bzw. einer Repräsentationszone im Gehirn verbunden, sondern jede Sinneserfahrung ist interpretationsbedürftig: Jeder Sinnesort gibt dem Ich die Möglichkeit, sich dort wahrnehmend und urteilend zu betätigen.

Zwischen sinnlicher und übersinnlicher Wahrnehmung unterscheiden

Es ist wichtig zu unterscheiden, wann wir sinnlich wahrnehmen und wann wir bereits hellsichtig und hellfühlig sind.

  • Nur die rein sinnliche Wahrnehmung sowie die Unterscheidung zwischen Innen und Außen können Sinneswahrnehmung genannt werden.

  • Alles, was wir anhand einer Sinneserfahrung im Inneren erleben, alles seelische Fühlen, ist bereits übersinnliches Erleben.

Wir sollen anhand der Sinneslehre klar erkennen lernen, dass Hellsichtigkeit bzw. Hellfühligkeit bereits im ganz normalen Seelenleben beginnen. Um uns wissen zu lassen, wie man diese Fähigkeiten weiterentwickelt, hat Rudolf Steiner „Wie erlangt man Erkenntnisse...“1 geschrieben.

In anderen Sprachen ist es äußerst schwer zu sagen, was eine Sinnesempfindung ist. Es gibt in der Regel kein Wort dafür. Gefühl ist nicht Empfindung! Rudolf Steiner unterscheidet sogar noch den Empfindungsleib als Grenze zwischen der physischen Sinneswahrnehmung und der Empfindung derselben in der Seele bzw. als Ort, an dem das Ich steht und merkt: Das ist mein Leib und das ist außerhalb davon. Das tut es mithilfe des Empfindungsleibes, der das Sich-in-seinem-Leib-Empfinden, das Anstoßen daran, ermöglicht. Die Empfindung am Leib ist Sinnesempfindung.

Freiheit von sich selbst als Selbstlosigkeit

Es ist wichtig, das zu unterscheiden, weil genau an dieser Stelle die Kultivierung des Ich beginnt, die Arbeit, das eigene Ich selbstlos zu machen. Der Schulungsweg der Anthroposophie, aber auch alle Schulungselemente, die wir aus Kunst und Lebenspraxis kennen, arbeiten nach demselben Prinzip: Das Ich dahin zu bringen, sich des vollen Umfangs seiner Erlebnismöglichkeiten bewusster zu werden und es zu schulen, sich diesen Erlebnismöglichkeiten frei gegenüberzustellen, sie frei zu handhaben, nicht abhängig davon zu sein. Ein selbstloses Ich zu erringen bedeutet, dass das Ich lernt, Erlebtes nicht zum Selbstgenuss zu missbrauchen, indem es in den damit verbundenen Wohlgefühlen schwelgt und abhängig davon wird. Das Ich muss vielmehr lernen, sich selbst loszulassen und sich frei gegenüberzustehen.

Selbstlosigkeit bedeutet ja nicht Selbstaufgabe, sondern ein neues losgelöstes Verhältnis zu sich selbst. Die höchste Freiheit des Menschen nennt Steiner die Freiheit von sich selbst: Dass man nichts mehr muss, nicht mehr meint, sich nicht so oder so verhalten zu müssen. Nur dann kann ich mich mir selbst frei gegenüberstellen, kann loslassen oder mich verbinden. Die Voraussetzung dafür ist das Vertrauen, sich dabei nicht zu verlieren. Glaube ist im Grunde das tiefe Vertrauen, dass das Ich Bestand hat.

Sinnesempfindung bewusst erfassen

Die Lektion, sich selbst als ein Fremder gegenüberzustehen, beginnt mit der Sinnesempfindung. Steiner sagt, die einzige Aufgabe der Erziehung bestehe darin zu ermöglichen, dass sich das Gefühlsleben des Kindes von seiner Verhaftung mit dem physischen Leib loslöst und an das Denken anschließt. Alles dreht sich um die Art, wie das Kind sich und die Welt fühlt – und dient im besten Fall dem vorhin erwähnten vierten Christusopfer, der Selbstlosigkeit des Ich.

Die wichtigste Übung, um das zu erreichen, besteht darin, tief zu empfinden, was man erlebt, genau zu sehen, was man sieht, aufmerksam zu hören, was man hört – in der Sinnessphäre detaillierte genaue Wahrnehmungen zu machen. Warum? Weil man eine Empfindung bewusst erfassen muss, um sie, wie Rudolf Steiner es in der Theosophie2 beschreibt, zum Gefühl verdichten zu können.

Sinn aller Erziehung und auch zentraler Auftrag jeder Selbstschulung und Therapie ist es, sich selbst bzw. dem Kind oder Klienten zu ermöglichen,

  • einen Sinneseindruck bewusst zu empfinden,

  • die Empfindung zu einem Gefühl zu verdichten,

  • sich über das Gefühlte klar zu werden

  • und zuletzt einen Ausdruck mit künstlerischen Mitteln dafür zu finden: über Klang, Form, Farbe, Bewegung.

Dabei geht es darum, einen selbstlosen Ausdruck zu finden für das Wahrgenommene als etwas, das einem gegeben wurde; nicht im Genuss hängenzubleiben, sondern den Genuss als Mittel zu nützen, etwas objektiv zu erkennen.

  • Zuletzt soll man sein Werk selbstlos von sich ablösen und es z.B. vor sich hinstellen bzw. es gemeinsam mit jemandem anderen anschauen: Wie siehst du es? Das hilft einem wieder ganz davon zurücktreten.

Dieser Prozess ist eine Schulung in Selbstlosigkeit.

Vgl. Vortrag „Der Bewegungssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung

  1. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse Höherer Welten?, GA 10.
  2. Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9.