Seelenorientierte Sinne

Welches sind unsere seelenorientierten Sinne?

Welche Möglichkeiten der Pflege und der Schädigung gibt es?

Die mittleren Sinne

Die seelenorientierten Sinne, auch mittlere Sinne genannt, wirken sich mehr auf das Seelische, darüber hinaus aber auch auf das soziale Miteinander und den Umgang mit der Welt, aus (vgl. Sinne(spflege): Leiblich, seelisch und geistig orientierte Sinne). Seelisches spielt sich immer zwischen den Polen von Sympathie und Antipathie ab.

  • 1. Der Geruchssinn

Der Geruchssinn vermittelt uns auf existentielle Art Erlebnisse von Ekel und Wohlgefühl. Der Mensch kann geschüttelt werden bis zum Erbrechen, wenn er etwas Ekelhaftes riecht. Beim Riechen erlebt man eine Art Kommunion mit dem Geruchsstoff. Denn die Geruchswahrnehmung ist ein molekulares Sich-Verbinden: Die Duftstoffe gehen eine echte Verbindung mit den Rezeptoren ein. Das bedeutet eine echte Kommunion auf substantieller Ebene, an der das Gefühl ganz tief beteiligt ist.

Unser Selbst macht die Erfahrung: Ich bin kommunionsfähig. Ich kann zerfließen, zusammenfließen mit dem Sein dieser Welt. Ich bin mit der Welt wesensmäßig verbunden. Mein eigenes Wesen, mein Körper ist im Erleben unmittelbar angeschlossen an das materielle Dasein meiner Umgebung. Die Kommunion vollzieht sich nicht nur mit dem Geist, sondern auch mit der Materie, mit allem. Das macht die Kommunionsfähigkeit des Ich erlebbar, die Wesensverbundenheit mit der Welt.

  • 2. Der Geschmackssinn

Durch den Geschmackssinn, dessen Organ die verschiedenen Geschmacksknospen sind, wird das Sympathie-Antipathie-Erleben als wichtige Selbsterfahrung in sehr differenzierter Weise möglich und zunehmend verfeinert: Das Ich schmeckt, wo es sich mit der Welt vereinigen will und sagt daraufhin „ja“ zu dem Angebotenen und es schmeckt, wo es sich abgrenzen will und sagt deshalb „nein“.

Wir verwenden in unserem Sprachgebrauch die Worte „schmecken“ und „riechen“ manchmal auch für soziale Erfahrungen, für Kommunionserfahrungen mit anderen Leuten: „Den oder die kann ich nicht riechen.“ Oder: „Das schmeckt mir nicht.“ Man meint damit eine soziale Situation, die einem nicht ganz geheuer ist, der man nicht ganz traut. Um seelisches Erleben auszudrücken, wird oft ein Begriff aus der Geschmacksphysiologie herangezogen. Ein differenziertes Geschmacksvermögen befähigt die Menschen im sozialen Miteinander dazu, sehr genau zu spüren, was sie mögen, was ihnen bekommt und was nicht. So seltsam das klingen mag – der Geschmacksinn ist der Vorbereiter für einen späteren sensiblen, geschmackvollen Umgang miteinander, für die Fähigkeit, Dinge und Situationen und Vorgänge sozial-ästhetisch zu beurteilen.

Wenn Eltern sich oft aus Zeit- und Kraftmangel, vor allem in der frühen Kindheit, nur noch an dem orientieren, was ihre Kinder gerne essen, bilden sich dadurch sehr einseitige Nahrungsgewohnheiten heraus: Nudeln und rote Soße, Schokolade, eine bestimmte Sorte Kekse und roter Saft – einfachste Dinge, die es immer und ständig gibt. Dadurch kann sich keine breite Geschmackspalette oder eine differenzierte Sympathie-Antipathie-Erlebnisfähigkeit entwickeln. Was daran besonders schlimm ist: Kinder lernen nicht mehr ihre Antipathie-Erlebnisse zu bearbeiten und zu überwinden. Wenn bei dem, was ihnen „nicht unter die Nase geht“, wenn mit den Worten „Das will ich nicht, das mag ich nicht, das kann ich nicht“, immer sofort Schluss ist und keine weitere Auseinandersetzung mit dem Abgelehnten stattfindet, lernen sie nicht, wie man etwas Unangenehmes, eine Speise oder ein Problem, im wahrsten Sinne des Wortes „auskosten“ und „verdauen“ kann.

Unangenehmes ist wichtig für die Selbsterfahrung

Für uns Menschen ist es wichtig, auch das Erleben von unangenehmen Qualitäten als eine wesentliche Form der Selbsterfahrung an der Welt anzunehmen. Durch Antipathie-Erlebnisse, durch das, was uns zunächst abstößt, wird gerade durch das Abstoßen unser Bewusstsein für Grenzen erhöht, werden wir uns unserer selbst mehr bewusst. An unseren unangenehmen antipathischen Erlebnissen erwachen wir, an den sympathischen Erlebnissen werden wir in uns selbst bestätigt. Aus ihnen lernen wir nichts Neues, sie geben uns aber Kraft, tun uns gut. Wir brauchen beides: die Wachheit, die durch verarbeitete Antipathie-Erlebnisse entsteht und die Kraft durch genossene Sympathie-Erlebnisse. Die Fähigkeit, beides zuzulassen, hängt direkt mit der ernährungsbedingten Geschmackserziehung zusammen, die unbedingt in den ersten Jahren der Gesamtprägung des Nervensystems und der Sinnesorgane stattfinden muss. Danach ist nur noch wenig nachzuholen, nur noch durch Verarbeiten im übertragenen Sinne. Denn in späteren Jahren lässt sich die Funktionsdynamik auf der körperlichen Ebene nur noch sehr schwer beeinflussen.

Rudolf Steiner benutzte den Ausdruck „Anti-Appetite“: Man solle den Kindern helfen, ihre Anti-Appetite zu überwinden. Es kann hilfreich sein, die Regel einzuführen, dass das Kind auch von dem, was es nicht mag, zwei bis drei kleine Löffel essen muss. Wir hatten zuhause extrakleine Kaffeelöffel, die wir Kinder zum Essen mitnahmen, und haben mit ihnen unsere Pflicht-Löffel zu uns genommen. Es ist wunderbar, wenn Eltern ihren Kindern so etwas zugestehen. Alle wissen, worum es geht, die Kinder essen die geforderten drei Löffel voll und lernen alles zu verdauen. Das ist wichtig. Die ganze Angelegenheit mit Humor zu nehmen, ist ebenso wichtig und trägt zu einem guten Selbstbewusstsein bei.

Im Johannesevangelium heißt es: „Ich bin die Tür“. Diese Worte sind ein Bild für eine bestimmte Form der Ich-Erfahrung: dass man als Mensch auf- und zumachen kann. Dass man sich bewusst zwischen Öffnen und Schließen zu bewegen vermag. Dass man beides beherrschen sollte. Wer nur den Umgang mit Sympathie-Erlebnissen pflegt, ist keine Tür, ist nicht souverän in beiden Richtungen, geht in der eigenen Führung nicht auf und zu.

  • 3. Der Wärmesinn

Dieser Sinn, dessen Reize über die Haut wahrgenommen werden, hängt ebenfalls sehr stark mit dem Gefühl zusammen. Er lässt uns Temperaturdifferenzen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch sehr unterschiedlich empfinden. Auch der Wärmesinn wird heutzutage vielfach vernachlässigt, weil wir es mit einer kalten Kultur zu tun haben. Oft sagte ein Kind zu mir: „Nein, mir ist nicht kalt.“ Wenn ich daraufhin seine Hand anfasste, war sie kalt. Als Erklärung kam dann: „Das ist bei mir so. So fühle ich mich wohl. Ich mag es nicht, wenn Hände und Füße warm sind.“ Es ist manchmal sehr schwer, an diesem Empfinden etwas zu verändern: Wärme überhaupt ertragen zu lernen, Wärme als Qualität wieder schön finden zu können.

Vor allem geht es darum, dass des Menschen Ich sich nicht „erkältet“. Wir sind als Ich-Wesen Wärmewesen (vgl. Wärme: Wärme als Grundlage von allem). Unser Selbst ist seiner Natur nach warm. Wenn wir begeistert sind, „brennen“ wir für eine Sache, einen Menschen, eine Idee. Wer sein Ich nur in seiner Kühle, in seiner Fähigkeit sich zu distanzieren erlebt, dessen Selbsterfahrung bleibt sehr einseitig. Unsere heutige Kälteerziehung fördert das Sich-abheben-Wollen von anderen, das Sich-Distanzieren, fördert die intellektuelle Entwicklung, die überall Kritik übt und dabei auf Distanz bleibt. Über die Sinnespflege können wir viel zur Überwindung dieser intellektuellen Kultur beitragen, in der Distanz, Antipathie und Kritiksucht in einseitiger Weise vorherrschen. Wir brauchen all die genannten Eigenschaften, aber in einem gesunden Maß. Wenn der Wärmesinn durch Einseitigkeit so gestört ist, dass er im Grunde genommen zu einem „Kältesinn“ verkommen ist, haben wir ein echtes Problem.

Wärme und Kälte werden beide vom Wärmesinn erfasst. Wir nehmen damit Temperaturdifferenzen wahr und damit auch Kälte. Durch das Kultivieren unseres Wärmesinnes entdecken wir unsere Fähigkeit zu Wärmeäußerungen (vgl. Sinne(spflege): Schmerz- und Wärmeempfinden). Bäder, Einreibungen und Massagen können sehr dabei behilflich sein, nachträglich ein warmes behagliches Körperempfinden hervorzurufen. Dadurch kann der Mensch an sich selbst erleben: „Ich bin ein Wesen, das zur Wärme fähig ist.“ Wir verfügen über körperliche, seelische und geistige Wärme, die dem menschlichen Selbst entspringt, dem Ich, das sich körperlich, seelisch und geistig verwirklicht. Körperlich erreichen wir das Ich über die Wärme, seelisch über Liebe und Sympathie, geistig über Themen, die uns begeistern, die das Ich unmittelbar ansprechen.

  • 4. Der Hörsinn

Das Organ für den Hörsinn ist im Innenohr gelegen. Hören ist eine stark seelenorientierte Sinneserfahrung. Sie wird allerdings oft als solche verkannt, weil wir meinen, das Wichtige daran wären die Inhalte – die Musik, die Sprache, das Plätschern von Wasser, das Sausen des Windes, die ganzen Maschinengeräusche. Zu glauben, der Inhalt der Erfahrung wäre wichtiger als die Erfahrung an sich, ist ein Problem im Hinblick auf jede Sinneserfahrung.

Wir müssen uns die Frage nach der Selbsterfahrung stellen, die durch das Grenzerleben des Hörens auftritt und durch unsere absichtsvolle Eigenaktivität beim Hören, um der tieferen Bedeutung dieses Sinnes für den Menschen auf die Spur zu kommen. Mir ist diese Bedeutung erst aufgegangen, als ich taubstumme Kinder zu behandeln begann. Ein taubstummes oder schwer hörbehindertes Kind ist bezüglich seiner Welterfahrung, bezüglich seines Selbsterlebens an der Welt, unverhältnismäßig stark auf das Auge angewiesen, das immer an der Oberfläche bleibt. In seiner seelisch-sinnlichen Selbsterfahrungsdimension hat ein taubes Kind dadurch ein Defizit – es kann mit seiner Wahrnehmung nicht in die Tiefe dringen. Für diese Kinder ist es sehr schwer, in ihrem seelischen Erleben Tiefe zu entwickeln.

Wenn wir intensiv hören wollen oder müde sind und uns trotzdem konzentrieren wollen, schließen wir die Augen. Dabei kann man besonders deutlich erleben, dass man beim Hören in einen inneren Hörraum gelangt, dass das Hören diesen Raum eröffnet – man wird sich dabei seines seelischen Innenraumes gewahr. Dieses Tiefenerlebnis, das Erleben dieser Innendimension, ist ein Geschenk des Gehörs: Der herankommende Schall wird tatsächlich in die Tiefe geleitet und nicht wie beim Auge bloß reflektiert, also an der Oberfläche gespiegelt. Die Seele wird durch den Hörsinn als autonomer Bereich, als Innenraum, der sich verengen und weiten kann, erlebbar. Er vermittelt uns auf eindrückliche Weise die Selbsterfahrung, dass wir mit unserem Ich in einem seelischen Raum wohnen, in einem Bewusstseinsraum.

Damit ist dieser Sinn, wie auch der benachbarte Gleichgewichtssinn, ein wesentlicher Grundsinn, um später meditativ arbeiten zu können, weil man sich dabei in diesem Seelenraum bewegt.

Vgl. Vortrag „Bewusstsein, Wahrnehmung und Nervensystem“, Meersburg, 09.11.1997