Dem Tod entgegenreifen

Was lässt uns in besonderem Maße dem Tod entgegenreifen?

Warum ist diese Entwicklung so wichtig?

Geistige Immunisierung

Die chronischen Erkrankungen des Alters (vgl. Entwicklung: Stadien der menschlichen Entwicklung) stoßen einen geistigen Lernprozess an, der nicht so leicht zu beschreiben ist. Wer daran leidet, hat das Gefühl, nie mehr ganz gesund zu werden. Ein bisschen humorvoll ausgedrückt sind chronische Krankheiten die allerbesten Freunde, weil sie einem bis zum letzten Atemzug treu bleiben. Davon handelt das Märchen der Brüder Grimm „Die Boten des Todes“. Am Ende stellt sich heraus, dass die chronischen Krankheiten die Boten waren, die den Tod ankündigten, die helfen wollten, dass man sich rechtzeitig auf das Lebensende vorbereitet. Ich spreche dabei auch gerne von „geistiger Immunisierung“.

Wenn ich bewusst auf den Tod zugehe, ist mir klar, dass ich meinen Leib und auch meine Seele, so wie sie sich am Leib erlebte, mit dem Tod verlieren werde (vgl. Sterben und Tod: Tod als Geistgeburt begriffen). Meine Seele wird sich nach dem Tod verwandeln, weil sie keinen Leib mehr hat. Wir müssen lernen, unser Denken, Fühlen und Wollen – unsere seelischen Kompetenzen – rein geistig zu erleben, müssen uns abgewöhnen, sie am bzw. durch den vertrauten Leib zu erleben. Das erfordert eine Anpassung an ein körperloses Leben, an ein Leben als Geist unter Geistern, als Seele unter Seelen. Das ist eine ähnlich dramatische Metamorphose wie die langsame Inkarnation durch Empfängnis, Geburt und Kindheit hindurch bis zur Mündigkeit.

Die Frucht, um die sich alles dreht

Wer sich nicht schon während seiner Lebenszeit mit dem sogenannten ewigen Leben nach dem Tode auseinandersetzt, läuft Gefahr, Angst vor dem Tod zu haben und zu Alkohol und anderen Drogen zu greifen, die die negativen Symptome jedoch nur weiter verstärken. Chronische Krankheiten werden dann zu Peinigern. Wer hingegen lernt, sich geistig zu immunisieren, sich schon zu Lebzeiten auf seinen ewigen Wesenskern zu besinnen vgl. Sterben und Tod: Den eigenen Tod sterben), wird das Zugehen auf den Tod als einen Reifungsprozess sehen zur Befreiung des Geistes aus dem Leib. Der Dichter Rainer Maria Rilke (1875-1927) hat hierzu ein Gebet geschrieben:1

O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.
Denn wir sind nur die Schale und das Blatt.
Der große Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht.

Diese „Frucht“, um die sich alles dreht, ist der seinem Wesen nach rein geistige, leibfreie Ich-Kern des Menschen. Dieser Wesenskern nimmt alles, was im Laufe der Erdenbiografie bewusst erlebt, gefühlt, gedacht wurde, in sich auf.

Um sich das besser vorstellen zu können, ein Beispiel dazu: Jeder Mensch bekommt im Laufe seines Lebens unglaublich viel von lieben Menschen geschenkt: Briefe, E-Mails und SMS, Blumen, Geschenke, kostbare Begegnungen, einmalige Momente. Man stelle sich nun vor, man hätte ein großes Museum, das jede noch so kleinste Kleinigkeit aufbewahrt. Wir müssen wissen, dass wir über die Todesschwelle nur das mitnehmen können, was wir in den „ewigen Boden“ unseres Denkens, Fühlens und Wollens aufgenommen haben. Nur auf diesem Wege können wir all das, was uns von außen zugekommen ist, der Vergänglichkeit entreißen und mit uns verbunden halten.

Unser Körperleben verläuft nur in der Zeit zwischen Geburt und Tod. Unser Gedankenleben jedoch, das in der Kindheit aufleuchtet und uns mit der ersten Erinnerung bewusst zu werden beginnt, ist über viele Leben hinweg in einem kontinuierlichen Wachstumsprozess begriffen, bei dem unser geistiges Wesen heranreift und sich das „Bewusstsein von sich und der Welt“ weiterentwickelt.

Sich zu Lebzeiten des ewigen Wesens bewusst werden

Deswegen haben die mittelalterlichen Mystiker wie Jakob Böhme so rätselhafte Worte geprägt wie: „Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt“.2 Das heißt, wer sich nicht bei Lebzeiten der unvergänglichen Natur seines Denkens, seines ewigen Lebens im Geiste, bewusst wird, der erkennt es auch nicht, wenn er stirbt (vgl. Doppelnatur des Ätherischen: Körperleben und Gedankenleben – das Ewige im Menschen). Sein Bewusstsein wird nach dem Tode erlöschen und er wird den Durchgang durch das nachtodliche und vorgeburtliche Dasein nur unbewusst erleben.

Laut Rudolf Steiners Geistesforschung sei das eine der Hauptursachen für die heutige Überbevölkerung:3 Der Materialismus lasse die Menschen blind werden für das geistige Leben, wodurch eine unbewusste Sehnsucht erzeugt werde, sich wieder zu spüren und deshalb so schnell wie möglich wieder eine Verkörperung auf der Erde anzustreben.

Eine spirituelle Erziehung, die das Erwachen des autonomen Ich-Wesens nicht behindert, sondern unterstützt (vgl. Erziehung: Erziehung mit Bezug auf die Wesensglieder), ist so gesehen in individueller und sozialer Hinsicht gesundheitsfördernd. Dann werden sich auch wieder weniger Menschen gleichzeitig auf der Erde inkarnieren und sie werden sich respektvoller begegnen und mehr Lernbereitschaft zeigen.

Vgl. Vom Sinn der … Krankheiten, in: Meditation in der Anthroposophischen Medizin, 1. Kap., Berlin 2016

  1. Rainer-Maria Rilke, Das Stunden-Buch, Insel Verlag, Berlin 1972.
  2. Siehe auch Rudolf Steiner, Goethes geheime Offenbarung. Zu seinem hundertfünfzigsten Geburtstage: 28. August 1899, Magazin für Literatur 1899, 68. Jg., Nr. 34.
  3. Rudolf Steiner, Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse, GA 209, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1982, S. 41-42.