Der therapeutische Fünfstern
Wir müssen als Pädagogen und Therapeuten bei unseren Interventionen fünf Aspekte im Auge behalten, die mit den fünf Ebenen des Menschseins zusammenhängen, um heilende Impulse setzen zu können (vgl. Anthroposophische Medizin: Fünf elementare Perspektiven der Medizin):
- 1. DAS ENTWICKLUNSALTER (PHYSISCHE EBENE):
Dieser Aspekt betrifft die physische Entwicklung des Kindes von Jahr zu Jahr. Instinkt, Trieb, Begierde äußern sich jedes Jahr anders, je nachdem, wie die Wesensglieder reifen – das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist, dass auch ein Erwachsener aufgrund eines Traumas seelisch in seiner Entwicklung in einem bestimmten Alter wie steckenbleiben kann. Aufgabe des Therapeuten ist es auch hier, den Klienten dort abzuholen, wo er sich seiner Reife nach befindet und ihn zu weiteren Reifeschritten zu veranlassen. Das setzt die genaue Kenntnis menschlicher Entwicklungsprozesse voraus.
Bei einem Fünfjährigen kann man mit den Mitteln der Ablenkung von Schmerz arbeiten. Auch sollte man ihm nonverbal vermitteln: ‚Ich weiß um das Schreckliche, das du erlebt hast, und ich verarbeite es in gewissem Sinne für dich, damit du es mithilfe deiner inkarnierten Wesensglieder nachahmen kannst.‘ Dazu muss der Therapeut sich in das traumatisierende Erlebnis so einfühlen, dass er dessen Auswirkungen für die Biografie des Kindes erahnen kann – nicht nur die pathologischen Folgeerscheinungen, sondern auch die Entwicklungsaufgabe, die dadurch gegeben ist. So kann er das Trauma anstelle des Kindes verarbeiten. Dabei ist es hilfreich, mit den folgenden Fragen in die Nacht zu gehen:
Was willst du, dass ich dir tun soll?
Wie lenke ich dich am besten auf das Gute in dieser Welt?
Wie kann ich das Schändliche, das dir widerfahren ist, so einordnen, dass ich den Sinn darin stellvertretend für dich erkenne?
Denn so ein Ereignis prägt die ganze Biografie dieses Kindes. Das kann als tragisch angesehen werden, kann aber auch als schicksalsgegebene Möglichkeit zur Entwicklung besonderer Stärken verstanden werden.
Ein Neunjähriger hat habituell die Haltung, seine Umwelt ständig dahingehend zu überprüfen, ob sie den eigenen Ansprüchen genügt. Viele Erwachsene stecken in diesem Stadium fest. Egal, ob ich mit einem Erwachsenen in diesem Stadium oder mit einem Neunjährigen arbeite, muss ich wissen, wie und unter welchen Bedingungen ein Neunjähriger den Reifegrad eines Zehnjährigen erreicht. D. h. ich kann die normale kindliche Entwicklung als Inspirationsquelle nehmen, um mir für diesen Patienten Nacht für Nacht Übungen einfallen zu lassen. Ich muss dabei aber immer an der Realität überprüfen, ob ich richtig liege – denn das Entscheidende ist das Ergebnis, nicht meine Vorstellung.
Beim Jugendlichen dagegen kommt es ganz darauf an, in ein Gespräch zu kommen, bei dem er die Führung übernimmt. Der Therapeut sollte ihm alles sagen, was er wissen will, sollte sogar auf seine unausgesprochenen latenten Fragen vorsichtig eingehen, wenn er spürt, dass der Jugendliche etwas wissen will, was er noch nicht formulieren kann.
Wenn es um jugendliche Aggressionen geht, wenn Jugendliche sich und andere hassen und verletzen möchten, wäre es therapeutisch zielführend, sie aus diesem Zustand aggressiver Selbstbezogenheit heraus zu locken und in ein kreatives Miteinander zu führen. Wollen sie diese Aufgabe erfüllen, lernen sie aus sich heraus neue konstruktive Lösungen, mit ihren destruktiven Neigungen umzugehen. Hier kann man sehr gut mit erlebnispädagogischen Angeboten und mit Theaterspielen arbeiten – also in Gruppenzusammenhängen. Sie fühlen sich als einzelne dann nicht so exponiert.
- 2. DER PROZESS, DIE ZEITGESTALT (ÄTHERISCHE EBENE):
Bei diesem Aspekt geht es um die prozessorientierte Frage:
Welche Zugangsart, welchen Prozess wähle ich, um an den Gewohnheiten des jungen Menschen zu arbeiten?
Im Rahmen der Therapie entwickelt sich durch den Charakter und die gewohnheitsmäßige Gestimmtheit eines Therapeuten beim Miteinander-Arbeiten eine gemeinsame Ätherhülle. Selbst ein schwer autoaggressiv gestimmter junger Mensch ist im optimalen Fall während der therapeutischen Sitzung ein anderer Mensch, weil der Therapeut es ganz in seine positiv gestimmte Ätherhülle aufnimmt.
Damit das gelingt, muss der Therapeut die Problematik seines Patienten selbst tief empfunden und durchschaut haben. Denn der Zugang zum anderen ist immer das liebevolle Verständnis (vgl. Anthroposophische Medizin: Heilsames Zusammenspiel von Therapeut und Patient). Dazu brauchen wir im therapeutischen Team ausführliche Kinder- bzw. Fallbesprechungen. Wenn wir einen Menschen verstehen, können wir ihn weißmagisch-ätherisch beeinflussen, indem wir ihm von unseren Äther- oder Lebenskräften schenken, wissend, dass sich diese Kräfte wieder erneuern lassen durch meditative Arbeit. Der Ätherleib ist ein unbewusster Liebesleib, der, so wie das Leben selbst, alles integriert und immer Gleichgewicht zu schaffen versucht.
- 3. DIE THERAPEUTISCH-PÄDAGOGISCHE BEZIEHUNG (ASTRALE EBENE):
Rudolf Steiner sagte, eine künstlerische Betätigung bereite immer Freude, egal, wie oft man schon gemalt, Musik gemacht usw. hat. Kunst, als Instrument der Selbstwirksamkeit ausgeübt, bewirkt durch die Freude am Tun eine positive Beziehung des Patienten zu sich selbst und seinem Tun. Der Unterricht und auch jedes andere therapeutisch-pädagogische Angebot sollte Freude machen und wird es auch, wenn es künstlerisch aufgebaut ist, wenn es genug Spielraum für Eigenaktivität und Kreativität lässt. Das ist die eine Seite.
Wichtig ist auf dieser Ebene andererseits die Beziehungsqualität zwischen Therapeuten bzw. Pädagogen und Kind unter dem Aspekt, was es jeweils braucht. Der Therapeut muss sich bei jedem Kind fragen:
Muss ich hier klar und strukturiert sein?
Muss ich ganz zugewandt sein oder eher neutral-distanziert?
Soll ich dem Kind den Freiraum geben, sich selbst eine Tätigkeit auszusuchen, oder muss ich die Aufgabe von Anfang an stellen?
Das sind alles Qualitäten, die der Therapeut situativ und individuell ganz bewusst einsetzen muss, damit die therapeutische Beziehung gelingt.
Gefühle, die jede Beziehung prägen, definiert Rudolf Steiner in der „Allgemeinen Menschenkunde“ als „zurückgehaltenen Willen“. Solange man etwas nur fühlt, tut man im Physischen noch nichts. Therapeut wie auch Pädagoge haben die Aufgabe ihr Gefühlsleben so zu gestalten, dass es heilsam wirken würde, wenn sie alles täten, was sie fühlen. Eine gute Beziehung herzustellen ist eine große Herausforderung im Umgang mit traumatisierten Menschen, liefert aber gleichzeitig den Schlüssel zum Erfolg.
- 4. DIE METHODE (ICH-ASPEKT):
Für die Auswahl der geeigneten Methode ist entscheidend, worin der Therapeut den Patienten auf seinem Entwicklungsweg unterstützen möchte. Dazu muss er wissen:
ob er an sich selbst,
oder mehr an den Schicksalsumstände
oder an der Grundsituation der Menschheit, also an menschheitlichen Themen leidet.
Bei einer endogenen Depression z.B., die mit dem Betroffenen ganz persönlich zu tun hat, muss vollkommen anders vorgegangen werden, als wenn klar ist, dass der Ehemann oder das schwierige Kind oder Mobbing im Beruf die Auslöser für die Depression sind. Der Therapeut holt idealerweise jeden da ab, „wo ihn sein Schuh am meisten drückt“ und wählt auch seine methodische Herangehensweise entsprechend aus.
- 5. DIE SPIRITUELLE ORIENTIERUNG (GEISTIGER ASPEKT):
Der fünfte Aspekt ist die spirituelle Orientierung, aus der heraus der Therapeut arbeitet. Das betrifft auch seine Ideale. Chr. Morgenstern sagte: „Wer vom Ziel nichts weiß, kann den Weg nicht finden.“ Das gilt auch, wenn der Weg das Ziel ist. Zu sagen, man müsse das Ziel nicht kennen, wenn der Weg das Ziel ist, wäre wirklichkeitsfremd. Ich muss das Ziel benennen können, denn erst wenn ich das Ziel kenne, kann ich meine Kräfte sammeln und gezielt darauf ausrichten. Nur weil man „Zielwissen“, sprich: Ideale, missbrauchen kann, sollte man nicht darauf verzichten Ideale zu haben.
Rudolf Steiner benützte den Begriff „Methodologie“, um darzulegen, dass Lehrer immer das jeweilige Entwicklungsziel eines Kindes im Blick haben sollten. Sie sollten genau wissen, worauf sie hinauswollen und entsprechend vorbereitet in den Unterricht gehen. Der Unterricht selbst aber sollte reiner Prozess sein, abgestimmt auf die besonderen Fragen und Aufnahmefähigkeit der Schüler. Ziel und Weg gegeneinander auszuspielen halte ich für unangebracht und ineffizient.
Ideale als Ressource
Hinter jedem Trauma verbirgt sich eine persönliche Botschaft. Je stärker sich ein Ereignis auswirkt, umso größer ist die Aufforderung, daran zu wachsen, umso deutlicher der Hinweis auf ein Defizit. Die Schicksalsführung bringt dem Menschen das Thema in dieser Form nahe. Deswegen ist bewusste innere Schulung das beste Mittel gegen Angst vor Krieg und Gewalt. Dabei lernt man, dass Krieg und Frieden in Wahrheit in der Seele jedes einzelnen Menschen beginnen. Man könnte auch rückschließen: Kriege sind die Projektionen von allem, was im Menschen nicht bereinigt und in friedliche Übereinstimmung gebracht wurde.
Konkrete Ideale und Ziele zu haben, ist hoch spirituell. Wem es mir gelingt, ein Ideal zu formulieren und im Lichte dieses Ideals, wie erwärmt von der Sonne des Zukünftigen, ganz kleine Schritte zu gehen, wird eine grundlegende Zufriedenheit mit seinem Leben empfinden, wie sie nur im Licht eines Ideals entstehen können. Ein solcher Umgang mit Zielvorstellungen wirkt befeuernd und Mut machend auf jedes Kind und jeden Jugendlichen, wenn sie ihn bei ihren Therapeuten, Lehrern und Bezugspersonen erleben.
Woher soll denn der Frieden kommen, wenn nicht aus der im Ideal bereits enthaltenen Vollendung, aus der Ganzheit, aus dem Ziel?
Das Ideal höchster Menschlichkeit, das Wahre Selbst, das Ziel aller Entwicklung, ist ja immer schon DA und schenkt uns Frieden, indem es jeden unserer Schritte liebevoll begleitet (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Tragekraft über den Abgrund), auch wenn wir uns noch so sehr am Anfang unserer Reise wähnen und uns von Herausforderung zu Herausforderung bewegen und immer wieder Fehler machen. All das dient uns und stärkt die Verbindung zu dem, worauf wir hinauswollen. Dank unseres Ideals werden wir uns gemäß unseren Möglichkeiten durch alles hindurch weiterentwickeln und unserem Ziel näherkommen.
Vgl. „Traumadiagnose und Traumatherapie – zur therapeutischen Dimension der Erlebnispädagogik“, 2017
- Christian Morgenstern, aus: Wir fanden einen Pfad