Etappen der Willensentwicklung
Wie entwickelt sich das Willensleben, die Fähigkeit zum Tun, beim Kind?
Wie motiviert man Kinder, etwas bewusst zu wiederholen und damit ihren Willen zu schulen?
Entwicklung individuell und als Menschheit
Ein Blick auf die Stadien der kindlichen Entwicklung zeigt, dass hier im Kleinen verläuft, was sich in der Menschheitsentwicklung im Großen abgespielt hat: Im Altertum empfand sich der Großteil der Menschen noch als von äußeren Autoritäten gelenkt. Erst mit dem Auftreten des Christentums erfolgt bewusstseinsgeschichtlich der Übergang vom „Du sollst" zum „Ich will" in Erfüllung des „einzigen Gebotes", der Liebe.1 Besonders anschaulich wird dieser Übergang im Gleichnis von der Ehebrecherin.2 Von Männern vor Gericht gezerrt, wird die Ehebrecherin Jesus vorgestellt mit der Frage, ob sie für ihr Vergehen im Sinne des Moses gesteinigt werden soll oder nicht. Jesus fordert die Ankläger auf, dem äußeren Gesetz nur zu folgen, wenn das eigene Innere damit übereinstimmt: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie." Darauf ziehen sich die Umstehenden einer nach dem anderen betroffen zurück. Als Jesus mit der Frau allein ist, entlässt er sie freundlich mit einer Aufforderung, ihre Willenserziehung selbst in die Hand zu nehmen.
Bedeutung von Wiederholung für die Willensentwicklung
In der „Allgemeinen Menschenkunde“ 3 am Schluss des 4. Vortrags, in dem Rudolf Steiner nur über Willenserziehung und Willensentwicklung spricht, sagt er: „Das, was den Willen am besten schult, ist die bewusste Wiederholung.“
Intelligenz zeigt sich der allgemeinen Auffassung nach darin, dass man etwas einmal erklärt bekommt und den Zusammenhang sofort begreift und sofort damit glänzen kann. Das ist das Gegenteil von dem, was Willenserziehung durch Wiederholung erreichen will. Hier geht es um die Entwicklung von Ausdauer und Konzentration beim Tun (vgl. Erziehung: Erwerb von Konzentration und Besonnenheit). Jedes intelligente Kind möchte Tätigkeiten ungern wiederholen, weil es sie schon kennt und Bekanntes zu wiederholen langweilig findet.
Entwicklungsphasen hin zur Reife
- Nachahmungsphase – Vorschulzeit
In der Nachahmungsphase der Vorschulzeit lässt sich der Wille des Kindes durch ein Vorbild, das nachgeahmt werden kann, von außen anregen und weitgehend leiten. Wenn ein Erwachsener im Umkreis des Kindes Tätigkeiten fröhlich und gerne verrichtet, wirkt das so magisch, dass das Kind immer mitmachen will. Das geht beim gesunden Kind wie von selbst.
- Autoritätsphase – Schulzeit
In der Autoritätsphase der Schulzeit sind bereits in hohem Maß Sympathie oder Antipathie dem Erwachsenen gegenüber entscheidend dafür, ob das Kind tut, was es lernen oder machen soll, oder nicht. Durch Liebe – bzw. Angst – lässt sich das Kind am leichtesten zu Handlungen bewegen. Gefühle, nicht mehr nur Vorbilder sind es, die jetzt zur entscheidenden Motivation werden. In dieser Phase muss eine persönliche Beziehung zum Erwachsenen vorhanden sein, damit das Kind ins Tun findet. In dem Alter lassen Kinder gerne ihr Instrument liegen, weil sie keine Lust mehr haben zu spielen, und fangen an schlechte Gewohnheiten auszuagieren.
Wenn in der Schule ein Lehrer, der aufgrund seiner Beziehung zu ihnen eine Autorität darstellt für seine Schüler und sie gerne von ihm lernen, zu ihnen sagt – „Du machst in diesem Schuljahr den Tafeldienst.“ „Und du kümmerst dich um die Blumen.“ „Du kümmerst dich darum, dass es unter den Bänken ordentlich aussieht.“ „Du machst mit dem und dem aus der und der Klasse den Toiletten-Check.“ – werden sie mitziehen. Die Kinder erledigen ihre Aufgaben dem Lehrer zuliebe.
Das ist Waldorfpädagogik. Rudolf Steiner wollte, dass sich der Wille bis ins Physische hinein festigt durch bewusste Wiederholung – am besten ein ganzes Jahr hindurch. Jedes Kind sollte deshalb ein Jahr lang eine bestimmte Aufgabe übernehmen. Und er schenkt ihnen den bejahenden, aufmunternden Blick. Sogar der intelligente Verstand sieht ein, dass es kein Fehler ist, so etwas mitzumachen.
- Phase der inneren Autorität – Jugendzeit
In der Phase der inneren Autorität im Jugendalter beginnt der Jugendliche selbst Dinge zu tun, die ihm wichtig sind. An diesem Punkt beginnt die Selbstschulung des Willens. Erst jetzt sind die Heranwachsenden unabhängig genug von ihrer Umgebung, um sich selbst durch eigene Einsicht leiten lassen zu können, d.h. selbst zu bestimmen und zu begründen, was sie tun und lassen möchten – auch wenn die Umgebung etwas anderes nahelegt. Man lernt, nicht nur zu „re-agieren” oder sich von Gefühlen leiten zu lassen. Es ist jetzt die eigene Urteilskraft, die die Führung übernehmen kann.
Solange Kinder in ihrem Handlungsvermögen noch abhängig sind vom Vorbild oder von Lust und Unlust, sind sie noch nicht mündig, noch nicht „willensreif". Fühlen und Denken müssen erst eine bestimmte Reife erlangt haben, um den eigenen Willen motivieren und lenken zu können.
Erzieher als Stellvertreter auf Zeit
Damit ist dem Erzieher die Richtung gewiesen: „auf Zeit" eine Art Stellvertreter der Persönlichkeit des Kindes zu sein, der sich an der Reife und dem Alter des Kindes orientiert. Absoluten Gehorsam zu verlangen oder zu drohen, ist genauso unangebracht wie die Bereitschaft, sich vom Kind tyrannisieren zu lassen und den eigenen Willen dem Willen des Kindes unterzuordnen. Willenserziehung sieht also in den einzelnen Epochen der Kindheit unterschiedlich aus – je nach Reifegrad der kindlichen Persönlichkeit.
Die Liebe zum Erwachsenen und sein Einfluss als Vorbild sind die entscheidenden Faktoren, die dem Kind Antrieb zum Handeln sind. Auf dieser Grundlage, nicht aber durch Beurteilungen wie Lob oder Tadel, wächst bei ihm die Liebe zum eigenen Tun.
Vgl. „Willensschulung – eine Notwendigkeit in Pädagogik und Selbsterziehung“, Kapitel: „Motivation und Willenserziehung im Kindes- und Jugendalter“, gesundheit aktiv
- Neues Testament, Joh. 13, 34.
- Ebenda, Kap. 8, 1-11.
- Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, GA 293.