Denken – Selbstbewusstsein – Geisterkenntnis

Wie fördern wir die Fähigkeit des Denkens am besten?

Was im Menschen, in der menschlichen Seele, hat die Möglichkeit, über Raumesgrenzen und Zeitbedingtheiten hinaus zu reichen?

Denken als übersinnliche Fähigkeit jenseits von Raum und Zeit

In einem Pfingstspruch von Rudolf Steiner heißt es:1

Wesen reiht sich an Wesen in Raumesweiten,
Wesen reiht sich an Wesen in Zeitenläufen.
Verbleibst du in Raumesweiten, im Zeitenlaufe,
so bist du, o Mensch, im Reiche der Vergänglichkeiten.
Über sie aber erhebt deine Seele sich gewaltiglich,
wenn sie ahnend oder wissend schaut das Unvergängliche,
Jenseits der Raumesweiten, jenseits der Zeitenläufe.

Was im Menschen, in der menschlichen Seele, hat die Möglichkeit, über Raumesgrenzen und Zeitbedingtheiten hinaus zu reichen?

Diese Fähigkeit lebt in den ersten Lebensjahren als unbewusste Intelligenz im Kind. Dann – meist plötzlich, wie mit einem Ruck – wird dem Kind bewusst: Ich bin ich. Oft sind es schreckhafte Erlebnisse, die das provozieren, manchmal aber auch strahlendes Glück oder eine besonders friedevolle Erfahrung, in der das Kind erstmals zu sich selber als einem denkenden Wesen aufwacht. Im Denken führt jeder Mensch sein ganz eigenes, ganz persönliches, „übersinnliches“ Leben, das mit dem ersten vollbewussten Ich-Sagen beginnt. Es ist wichtig, dass man als ErzieherIn ein warmes Verständnis entwickelt für diesen dritten entscheidenden Schritt in der frühkindlichen Entwicklung: dem Erwachen zu sich selbst.

Den Denkenden als eigene Wesenheit denken

Der Philosoph Fichte machte mit seinen Studenten gerne folgende Gedankenübung:

„Meine Herren: bitte schauen Sie diese Wand an – und nun, meine Herren, denken sie diese Wand, stellen Sie sich die Wand mit geschlossenen Augen lebhaft vor. Und jetzt, meine Herren, denken Sie den, der die Wand gedacht hat.“

Diese Gedankenübung macht bewusst, dass wir im Denken auch jemand sind, ein rein „gedachtes“, wollendes, gestaltendes, tätiges Potential – ein Gedankenwesen (vgl. Gedankenkraft: Gedanken als Brücke zur Geisterfahrung), nicht nur ein Körperwesen. Je mehr Bezüge wir mit uns und der Welt herstellen beim Denken, je weniger isoliert wir die Dinge betrachten, je mehr wir sie in den Gesamtzusammenhang integrieren, umso wahrer ist das, was wir denken. Wir benützen das Denken, um all das zu lernen, was wir als Menschen nicht von Natur aus – d.h. instinktiv – können, z.B.

  • um eine vernünftige Struktur in den Tageslauf zu bekommen
  • um richtig schlafen zu lernen
  • um richtig essen zu lernen
  • um sozial kompetent zu werden
  • um Selbst-, Menschen- und Welterkenntnis zu betreiben
  • um uns menschenwürdig fortzupflanzen
  • um berufstätig und lebenstüchtig zu werden – usw.

Bei alledem müssen wir unser Bewusstsein einschalten, Fehler erkennen, Lernprozesse durchmachen. Tiere haben von Natur aus, worum wir ringen müssen. Bei ihnen verläuft das Lernen über die Körperinstinkte. Sie haben keine andere Möglichkeit als sich intelligent zu verhalten. Dafür sind sie aber auch nicht zur freien Willensentfaltung und zu lebenslangem Lernen und Wandel befähigt (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Zwischen Tier und Mensch unterscheiden).

Bei Mineral, Pflanze und Tier ist das Wissen, ist das Naturgesetz, ist die der Entwicklung zugrunde liegende Weisheit an die Substanz, das genetische Material gebunden. Nirgendwo tritt diese Weisheit, die Gesetzmäßigkeit, nach der alles funktioniert, „an sich“ auf, losgelöst, unabhängig von der Materie. Sie ist immer an einen realen Prozess gebunden.

Denken der Naturgesetze und Neuschöpfung

Das menschliche Denken ist der einzige Ort, an dem die Gesetze der Natur in abstrakter Form zu finden sind, herausgelöst aus der Materie. Die Weisheit der Welt tritt dort aus dem Naturdasein heraus und führt in unserem Bewusstsein ein geistiges Eigendasein. Deswegen empfinden wir unser Denken als leicht und frei, ohne Gewicht, unverbindlich. Denken ist reine Geistesbewegung, ohne dass sich dadurch sofort materiell etwas realisiert. Wir können alles denken, was es gibt (vgl. Denken: Denken als Brücke zwischen der Sinneswelt und der Welt des Geistigen), und alle Gesetze finden, denen die Schöpfung und Entwicklung der Welt folgt – als reines Geistesspiel, herausgehoben aus dem natürlich irdischen Entwicklungsgeschehen.

Wir dürfen die Gedanken, die der Schöpfergott realisiert hat, nachdenken. Aber nicht nur das. Auch Pflanzen und Tiere „denken“ die Schöpfung nach, indem sie sie leben und diese Weisheit materiell verkörpern. Wir Menschen können das Nachdenken in ein schöpferisches Weiterdenken verwandeln, in Denken von noch nicht da Gewesenem, und können dadurch Welt und Leben ändern.

Wir können aber auch Blödsinn und Irrtum denken in dem völlig freien Spiel der Möglichkeiten. Wir gestalten unsere Wirklichkeit nach unserem Denken: Hände und Füße müssen warten, bis wir ihnen sagen, was sie tun, wohin sie gehen sollen (vgl. Gottebenbildlichkeit des Menschen: Der Mensch als Offenbarung des Göttlichen). Sie sind, wie es auch an der aufrechten Menschengestalt abzulesen ist, 2 dem Denken untergeordnet. Insofern stehen wir heute vor der erschütternden Tatsache, dass die Schöpfung vom Urbeginn durch uns Menschen in eine kritische Phase geraten ist. Es liegt an uns, an unserer freien Entscheidung, wie es mit uns und der Welt weitergehen wird.

Die Götter haben den Menschen als „Krone der Schöpfung" bezeichnet, und – sie haben ihn körperlich nicht fertig gestellt, haben ihn nicht so vollendet geschaffen wie die Tiere. Wir wurden als halb physische, halb geistige Wesen geschaffen, aber nicht so, dass in der Wiege die Gebrauchsanweisung liegt, wofür das Baby seinen Geist im Leben anzuwenden hat, sondern so, dass es selber darauf kommen muss.

Gottgegebener Freiheitsspielraum im Denken

So wie der Mensch sich beim Aufrichten ein bisschen zurücknehmen muss, um sich im Gleichgewicht zu halten und sich frei nach allen Seiten bewegen zu können, so hat sich auch der Logos, der Schöpfergott, beim Menschen zurückgehalten: Er hat uns einen Rest des Schöpfungsprozesses zur Selbstgestaltung überlassen. Er hat darauf verzichtet, den Menschen zu vollenden, und hat uns damit die Freiheit gegeben, mit der uns innewohnenden Schöpferkraft zu machen, was wir wollen. Diesen Freiheitsspielraum haben wir in unserem Denken, da sind wir absolut frei, dank der Zurückhaltung Gottes (vgl. Gedankenkraft: Gedanken als Brücke zur Geisterfahrung). Wir entfalten unser Selbstbewusstsein in einer Gedankenwelt, die uns alle Gesetze, alle schöpferischen Möglichkeiten zwar an die Hand gibt, uns jedoch nicht bestimmt. Daher kann Intelligenz auch im Dienst von Verlogenheit und Destruktivität wie Verbrechen und Krieg stehen.

Ich möchte jetzt noch einen Schritt weiter in diese geistige Realität einführen und zeigen, wie der Mensch sich bei all dieser Spiritualität nicht verliert, sondern findet. Denn das Denken überwältigt uns nicht, sondern macht es uns möglich, uns selbstbewusst mit dem Geistigen in Beziehung zu setzen (vgl. Selbstbewusstsein: Selbstbewusstsein über den Tod hinaus).

Menschliche Gabe der Urteilskraft

Scottus Eriugena, ein Theologe und Mönch des frühen Mittelalters, sagt in seinem Buch „De Devisione naturae“ (Über die Einteilung der Natur), dass der Mensch mit den Mineralien die physische Substanz, mit den Pflanzen das Leben, mit den Tieren die Seele und mit den Engeln das Denken gemeinsam hat. Er fragt jedoch noch weiter:

Was hat der Mensch nur für sich?

Wo ist er ganz allein, ganz selbständig, und verdankt sich selbst, was er tut?

Seine Antwort ist, dass der Mensch als einziger die Fähigkeit zu urteilen hat. Wenn er urteilt, ist er ganz auf sich gestellt. Beim „Ur-teilen“ bemüht er sich, die Teile in einem stimmigen Verhältnis zum Ganzen zu sehen und so die Wahrheit einer Situation oder eines Prozesses zu erkennen. Wir Menschen sind die „Wesen der Beurteilung“, wie es im Alten Testament heißt, die Böse und Gut unterscheiden sollen. Selbsterkenntnis (vgl. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung: Selbsterkenntnis und Selbsterziehung) und Selbstbeurteilung, Welterkenntnis und Weltbeurteilung, kommen durch den Menschen als neue Qualität zu dem durch die Schöpfung Gegebenen hinzu.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes – Was erhält das kleine Kind gesund?“, Persephone 2012, Vereinigung der Waldorfkindergärten e.V. in Deutschland

  1. Rudolf Steiner, Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt. GA 118, Vortrag vom 15. Mai 1910.
  2. Rudolf Steiner, Die menschliche Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitäten. GA 224, Drei Etappen des Erwachens der menschlichen Seele. Vortrag vom 28. April 1923.