Christliche Mysterien – Kultur der Verantwortung und Mitgestaltung

Inwiefern sind die neuen Mysterien des Willens christlich zu nennen?

Neue Mysterien helfen dem Ich „zu sich“ zu kommen

Angesichts der Tatsache, dass die Menschen ihr Schicksal zunehmend selbst in die Hand genommen haben und selbst wählen, wem sie die Führungsaufgabe in Gemeinde und Staat zusprechen, kann das Besondere eines erneuerten Mysterienwesens nicht darin liegen, alte Formen geistiger Übermacht oder geheimen Wissens (vgl. Mysterien und Initiation: Über die alten Mysterien), mit dessen Hilfe die Unwissenden beherrscht werden können, wieder aufleben zu lassen. Auch das Schaffen neuer geheimer Eliten würde keinen Fortschritt sondern vielmehr einen Rückschritt bedeuten und die Tatsache, dass Christus auf der Erde erschienen ist (vgl. Christus heute: Christuserfahrung im Spannungsfeld von Krieg und Frieden), ignorieren.

Die neuen Mysterien müssen das sich individualisierende, verunsicherte, irrende Menschen-Ich respektieren und ihm helfen, „zu sich“ zu kommen.

  • Verantwortung übernehmen

Erst dann kann vom befreiten Menschen-Ich das neue Mysterium ausgehen: dass viele Einzelne beginnen, sich in Freiheit für die großen Menschheitsangelegenheiten zu interessieren und aus eigener Initiative Mitverantwortung für das Ganze zu übernehmen. Die Zukunft der Menschheit wird zunehmend davon abhängen, dass der einzelne lernt, auf individuelle Art mit der Weisheit dieser Welt umzugehen, selbst tätig zu werden.

Die Individualität, der Einzelne, braucht mit Blick auf die Zukunft ein neues Entwicklungsmotiv (vgl. Menschheitsentwicklung: Individualisierung als Entwicklungsmotiv). In Goethes Märchen heißt es: „Ein einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt.“1 Während die alten Volks- und Familiengemeinschaften durch einzelne „Oberhäupter“ geleitet und bestimmt wurden, müssen die neuen Gemeinschaften dadurch entstehen, dass sich viele freiwillig „zur rechten Stunde“ zusammenfinden. Es hängt vom – freien – Willen vieler Einzelner ab, ob „das Gute“ geschehen kann.

  • Das sozialen Leben mitgestalten

Die neuen Mysterien sind aber auch Mysterien der Gestaltung des sozialen Lebens auf der Grundlage der freien Entscheidung des einzelnen Menschen, seinen Willen in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen (vgl. Mysterien und Initiation: Charakteristika der neuen Mysterien). Das Neue, das in Zukunft zunehmend eine führende Rolle spielen wird, besteht also darin, dass kompetente Individuen sich freiwillig, aus eigenem Willen, zu Arbeits-, Initiativ- und Kulturträgergemeinschaften zusammenschließen (vgl. Gemeinschaft(sbildung): Einleitendes zum Thema Gemeinschaft).

Das kann man an der weltweiten Entwicklung der „Nichtregierungsorganisationen“ (NGO) in den letzten fünfzig Jahren erleben: In diesen Gemeinschaften lernt man sich als Individuum, das eine eigene Meinung hat, zu Gunsten von größeren, wichtigeren Aufgaben zusammenzuschließen – darin liegt Zukunft. Solche Gruppierungen brauchen die Staaten heute als Gegenüber, damit sie überhaupt noch regierungsfähig sind in einer Zeit, in der die Politik immer mehr zur Handlungsunfähigkeit verurteilt ist, weil die Wirtschaft demokratisch nicht zugänglich ist, aber Macht hat, in großem Umfang die gesellschaftlichen Verhältnisse zu prägen. Die Politik ist heute ohnmächtig, weil nicht sie die Macht des Geldes hat und weil diejenigen, die sie haben, sich der demokratischen Kontrolle entziehen.

Das muss ausgeglichen werden durch eine ausreichende Anzahl an initiativen Menschen, die individuelle Kulturleistungen erbringen – auch in der Wirtschaft. Unsere Zeit braucht selbstverantwortliche Menschen, die sich dafür engagieren, dass Kinder und Jugendliche zu „vernünftigen“ Menschen heranwachsen können. Auch das ist Aufgabe der neuen Mysterien, denn davon hängt die Zukunft der Menschheit ab; daran entscheidet sich, ob es gesellschaftlich weiter bergab geht oder entschieden bergauf.

Vgl. Alte Mysterienstätten und neue Sozialkultur, in: Meditation in der Anthroposophischen Medizin, 1. Kap., Berlin 2016

  1. Johann Wolfgang Goethe, Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie.